Das Auswärtige Amt und die Vergangenheit
Guntram von Schenck, Dezember 2010

 
Das Auswärtige Amt und die Vergangenheit

oder
Vom Kratzen an den Tempelwänden



Das Buch „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“, Blessing Verlag, München 2010 (Das Amt) der von Außenminister Joschka Fischer 2005 berufenen Unabhängigen Historikerkommission fordert zu einigen kritischen und ergänzenden Kommentaren heraus:

- die Rolle Ernst von Weizsäckers als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes (AA) von 1938-1942;

- die Rede seines Sohnes Richard von Weizsäcker als Bundespräsident zum 8. Mai 1985 ("Tag der Befreiung“);

- der Holocaust und die angebliche Beteiligung der Spitze des AA an der Entscheidung über die „Endlösung“;

- die Reaktion des AA auf die Kontinuitätsfrage zwischen altem und neuem AA.


1) Der Aufstieg Ernst von Weizsäckers und seine aktive Rolle im NS-Staat

Es gibt kaum jemand, der uns besser in die schrundigen Abgründe der NS- und Nachkriegszeit geleiten und begleiten könnte als Ernst von Weizsäcker, Staatssekretär des AA von 1938-1942 und Botschafter beim Vatikan 1943-1945. Es ist kein Zufall, dass sich an seiner Person die Diskussion um Kontinuität und Diskontinuität, Anstand und Verbrechen, Widerstand und Regimetreue der Funktionseliten und eines großen Teils der deutschen Gesellschaft von 1933 – 1945 und danach immer wieder entzündet hat. An seiner Biographie machen sich Fragen fest, die immer wieder aufbrechen, wie die jüngste Diskussion um das Buch „Das Amt und die Vergangenheit“ zeigt.

Bei der Darstellung des Aufstiegs von Ernst von Weizsäcker lässt die Historikerkommission auch Weizsäcker selbst zu Worte kommen. So sei er, als die Beförderung zum Staatssekretär anstand „eigentlich ohne Ehrgeiz“ gewesen, er habe „ein gerechtfertigtes Opfer gebracht“, um „den Frieden zu bewahren“ (Das Amt, S. 127). Dem unbefangenen Leser steht es frei, Weizsäcker Glauben zu schenken. Natürlich macht es sich gut, gerufen worden zu sein und sich nicht auf den Posten gedrängt zu haben. Wem das AA hinlänglich vertraut ist, wird dieser "erinnernden Erzählung" aber kaum Glauben schenken können. Niemand wird „irgendwie“ Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. Dafür gibt es Voraussetzungen, die nicht nur in der fachlichen Kompetenz des künftigen Amtsträgers begründet sind. Der Staatssekretär setzt den Willen des Ministers um, wobei er einen gewissen Spielraum hat, der aber bei den politischen Kernfragen endet, besonders wenn es um Fragen von Krieg und Frieden geht. Da passt kein Blatt zwischen Minister und Staatssekretär. Wenn doch, ist er die längste Zeit Staatssekretär gewesen.

Weizsäcker brachte diese Art von Voraussetzungen mit. Er hatte sich im Sinne des Regimes 1936 nachdrücklich für die Ausbürgerung von Thomas Mann eingesetzt (Das Amt, S.85). (Thomas Mann! Mein politisches Initiationserlebnis als Bonner Student Mitte der 60er Jahre war die Debatte um die Aberkennung der Ehrendoktorwürde Thomas Manns durch die Universität Bonn 1936.) Gegenüber dem Schweizer Gesandten in Paris hatte Weizsäcker 1938 zu verstehen gegeben, dass die Juden Deutschland verlassen müssten, „sonst gingen sie eben über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen“ (Das Amt, S. 173). Weizsäcker leitete ab August 1936 die Politische Abteilung des AA erst interimistisch, ab April 1937 als Ministerialdirektor. Er hatte sich gesinnungsmäßig dem Regime angedient und mit dem Posten eines Politischen Direktors auf den Staatssekretär hingearbeitet. Als Hitler die NS-Außenpolitik aktivieren wollte, fand er in Ribbentrop einen willfährigen, wenn auch etwas unbedarften Minister und in Weizsäcker einen kenntnisreichen, fähigen Staatssekretär, der die Lücken des Außenministers ausfüllen konnte und wollte. Ernst von Weizsäcker und das NS-Regime hatten sich gefunden, auch wenn Weizsäcker erst nach seiner Ernennung zum Staatsekretär der NSDAP beitrat und in die SS im Rang eines Oberführers aufgenommen wurde. Die Nazis hatten viele Defizite, nicht aber in Macht- und Loyalitätsfragen, da kannten sie sich aus.

Bei aller juristischen Problematik der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse haben sie doch das unbestreitbare Verdienst, Fakten und Dokumente öffentlich gemacht und zur Klärung bestimmter Fragen beigetragen zu haben. Im sog. Wilhelmstraßenprozess, einem der Nürnberger Nachfolgeprozesse: „United States vs. Weizsäcker et al.“ , in dem AA-Diplomaten mit Ernst von Weizsäcker an der Spitze angeklagt wurden, sind Dokumente publik geworden, die zeigen, dass Weizsäcker auch später „in der Spur blieb“. Den Entwurf des Münchner Abkommens von 1938, in dem die Tschechoslowakei zur Abtretung des Sudetengebiets gezwungen wurde, hatte Weizsäcker zusammen mit Göring und Ex-Außenminister Neurath ausgearbeitet. Er wurde dann von Mussolini als Vermittlungsvorschlag unterbreitet (Das Amt, S. 134). Einen Schnellbrief des AA-Judenreferenten Rademacher vom März 1942 zeichnete Weizsäcker ab: gegen die Deportation von 6000 Juden aus Frankreich wird „kein Einspruch“ erhoben. Weizsäcker hatte das Schreiben selbst noch redigiert und die Formel „keine Bedenken“ in „kein Einspruch“ umgewandelt (Das Amt, S. 229, 397). Noch nicht bekannt war in Nürnberg, dass Weizsäcker Berichte der Einsatzgruppen in Polen und der Sowjetunion 1941/1942 abgezeichnet hatte. Im Bericht Nr. 6 wird explizit die Liquidation von 4891 Juden erwähnt (Das Amt, S. 186 f., S. 396). Weizsäcker wusste, was vor sich ging.

Historiker und Außenstehende haben manchmal – ebenso wie seinerzeit die Ankläger und Richter in den Nürnberger Prozessen - offenkundige Schwierigkeiten, interne Vorgänge in Ämtern wie dem AA richtig zu erfassen und zu interpretieren. Dokumente sind wichtig, aber sie sind nicht alles. Auch die „oral history“ stößt an ihre Grenzen.

2) Weizsäcker im Widerstand?

Was es mit dem sog. AA-Widerstandskreis um Weizsäcker auf sich hat, ist umstritten. Aber es verwundert, ja verblüfft, dass die Mitarbeit Weizsäckers am Münchner Abkommen 1938 eine Art des Widerstands gewesen sein soll. Weil Hitler schon zu diesem Zeitpunkt den Krieg gewollt habe, sei es „Friedenspolitik hinter dem Rücken Hitlers und Ribbentrops“ gewesen (Interview Richard von Weizsäckers, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24. 10. 2010). Im diplomatischen Austausch mit den Regierungen in London und Paris kam es natürlich auch darauf an, diesen glaubhaft zu demonstrieren, dass es auf deutscher Seite „Friedenskräfte“ gab, eine Rolle, die dem Staatssekretär zufiel. Neurath, der als Ex-Außenminister und Reichsprotektor für Böhmen und Mähren in Nürnberg zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war, dachte bei der Überführung ins Gefängnis Spandau laut darüber nach, „wieviel größer die Strafe sein sollte für Weizsäcker (und andere, d. Verf.), die offene Unterstützer von Hitlers Politik der aktiven Aggression waren“ (Das Amt, S. 379). Dem Widerstandskreis um Weizsäcker soll auch der Büroleiter von Ribbentrop, Erich Kordt, seit 1940 SS-Obersturmführer und seit 1941 Gesandter I. Klasse in Tokio angehört haben (Das Amt, S. 296). Wer eine Ministerialbürokratie von innen kennt, fasst sich unwillkürlich an den Kopf. Der Diplomat Ulrich von Hassel, anfänglich ein Befürworter des NS-Regimes, aber nach dem 20. Juli 1944 als aktiver Widerständler hingerichtet, notierte 1942: Der „ganze Kreis um Weizsäcker zeigt auf Dauer immer mehr, dass er im Grunde schwach und beeindruckbar ist. Etwas was nach Handeln schmeckt, ist von dort nicht zu erwarten“ (Das Amt, S.136).

Es fällt uns Nachgeborenen nicht leicht, uns in die Situation unter dem NS-Regime zurück zu versetzen. Aber Widerstand gegen das Nazi-Regime gab es von Anfang an: Sozialdemokraten, Kommunisten, Angehörige des Zentrums, Kirchenleute, Gewerkschafter und andere – aus allen Schichten der Bevölkerung brachten sie seit 1933 im Widerstand große Opfer: ihr berufliches Leben wurde zerstört, sie kamen in Haft, ins KZ, wurden in die Emigration gedrängt oder wurden ermordet. Um nur einen für viele Zehntausende zu nennen: der erste Nachkriegsvorsitzende der SPD, Kurt Schumacher, war fast die ganze Nazizeit im KZ eingesperrt gewesen und hatte dabei seine Gesundheit eingebüßt. Beim Militär bildeten sich regimekritische Kreise, die spät, aber immerhin am 20. Juli 1944 zur Tat schritten. Weizsäcker kann man abnehmen, dass er Bedenken gegen den Kriegskurs Hitlers und verschiedene Ausformungen der NS-Politik hatte, aber diese Bedenken dürften in weiten Kreisen der Bevölkerung geteilt worden sein. Weizsäcker war dank seiner Kontakte zur inneren Opposition und seiner Funktion als Staatssekretär bestens informiert. Ein signifikanter Akt des Widerstands ist von Weizsäcker dennoch nicht bekannt. Ab 1943 bis zum Kriegsende blieb er Botschafter beim Heiligen Stuhl. Auch nach der Besetzung Roms durch die Alliierten blieb er bis August 1946 im Vatikan. Im vatikanischen Exil soll er einem britischen Vernehmer zufolge mit einer Art „Heiligenschein“ herumgelaufen sein (Das Amt, S. 405).

Es gab seit 1933 entschiedenen Widerstand gegen das Hitlerregime, Weizsäcker gehörte schwerlich dazu. Carlo Schmid, einer der wichtigsten Vertreter der Sozialdemokratie der Nachkriegszeit, hat es rundweg abgelehnt, sich im Zusammenhang mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen in irgendeiner Form für Ernst von Weizsäcker zu verwenden.

3) Legendenbildung

Man könnte Weizsäcker in die endlose Zahl vergessener deutscher Mitläufer und Mittäter aus den Funktionseliten einreihen, wäre da nicht der Versuch gewesen, ihn zum Repräsentanten des anständig gebliebenen deutschen Beamtentums, insbesondere des AA zu machen. Während des sog. Wilhelmstraßenprozesses sammelte sich ein neuer „Weizsäcker-Kreis“, der nicht nur zur Verteidigung Weizsäckers eine bestimmte Lesart der Geschichte zurückweisen wollte und der die Verstrickungen Weizsäckers und des AA leugnete oder zumindest relativierte. Dieser Kreis wollte für das AA anschlussfähige Traditionen und Leitbilder aufzeigen, die die Nazi-Zeit überdauert hatten (Das Amt, S. 421). Eine Phalanx von ehemaligen Diplomaten-Kollegen trat mit dem Versuch an, Weizsäcker aus dem Feuer zu holen. Sie schufen die Legenden von den unpolitischen Staatsdienern, von den zwei Ministerien im AA, das eine „Nazi-verseucht“, das andere „gesund und anständig“ geblieben, die sich gegenseitig bekämpften. Letztere hätten den Staatstreich erwogen, seien aber an der abweisenden Haltung Londons gescheitert. Schließlich und letztendlich hätte das AA den höchsten Blutzoll von allen Reichsbehörden erbracht…etc. (Das Amt, S. 412-414).

Die Legendenbildung gelang, die Verteidigung Weizsäckers nicht, zu viel sprach dagegen. Weizsäcker wurde trotz des beginnenden Kalten Krieges, der vielen anderen in Nürnberg Angeklagten rechtzeitig zu milden Urteilen oder zur Straffreiheit verhalf, im November 1948 zu sieben Jahren Haft verurteilt – einen Monat vor Verabschiedung des Grundgesetzes. Der Zeithistoriker Daniel Koerfer, der die Ergebnisse der von Außenminister Fischer eingesetzten Historikerkommission äußerst kritisch sieht, meint, dass Weizsäcker in Nürnberg „vermutlich hingerichtet worden wäre“, wenn damals Weizsäckers Abzeichnung der Einsatzgruppenberichte 1941/1942 bekannt gewesen wäre, „dass er also wusste, dass hinter der Front Massenmord in großem Stil begangen wurde“ (Interview, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.11.2010).

Man mag von den Nürnberger Prozessen halten was man will - und es gibt nicht wenige kritische Stimmen: das Urteil gegen Weizsäcker steht im Raum. Die AA-Legenden vom „apolitischen, anständigen, gesunden“ alten Amt, das die Karrierediplomaten über die NS-Zeit bewahrt und gerettet hätten, werden von der Historikerkommission widerlegt (Das Amt, S. 401 f.,412 f.). Es erstaunt, wie lange sich diese Legenden halten konnten.

4) Richard von Weizsäcker und der 8. Mai

Richard von Weizsäcker, der Sohn des AA-Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker und spätere Bundespräsident (1984-1994), hatte am Wilhelmstraßenprozess als Mitglied der Verteidigung teilgenommen und zu diesem Zweck sein Studium unterbrochen. Es fällt nicht schwer zu verstehen, wie sehr ihn der Prozess und die Verurteilung seines Vaters mitgenommen haben muss. Das Thema dürfte ihn auch in der Folgezeit beschäftigt und belastet haben.

Wie geht man damit um – als Repräsentant eines Staates, einer Gesellschaft, einer Funktionselite, als Bundespräsident - in einer Rede zum 40. Jahrestag der Kapitulation? Nimmt man die alte Argumentation von Nürnberg wieder auf, knüpft an die alten Legenden an oder weicht man aus? Das tut Weizsäcker nicht, er machte einen wichtigen Schritt: er nannte die Niederlage von 1945 eine „Befreiung“. Es ist vor allem dieser Satz, die Umdeutung der Niederlage in eine Befreiung, der für seine Rede steht, der von seiner Rede bleibt. Die Überzeugungskraft Weizsäckers kam aus dem persönlichen Erleben. Es war ein Befreiungsschlag. So ist die Rede jedenfalls in Deutschland überwiegend aufgenommen worden. Sie ist in der Folgezeit nahezu „kanonisiert“ worden.

Umdeutungen oder Neubewertungen der Geschichte sind nichts Ungewöhnliches, jede Generation schreibt ihre Geschichte neu. Was vor einem halben Jahrhundert negativ bewertet wurde, erstrahlt nunmehr in hellem Licht und umgekehrt. Aber Vorsicht: der allzu lockere Umgang mit der Geschichte birgt Gefahren, hat Fallstricke und Abgründe. Umdeutungen haben mitunter Konsequenzen, sie haben ihren Preis. Oder sie stoßen sich so hart an der historischen Realität, dass es schmerzt. Dann ist es zum Vorwurf der Geschichtsklitterung nicht mehr weit. Zu bedenken ist auch, welche Traditionen betont, welche vernachlässigt werden. Gefährlich ist das Entstehen von Legenden, die einer nüchternen und realistischen Einsicht in die Vergangenheit im Wege stehen und Fehlentscheidungen für die Zukunft programmieren. Als geradezu klassisches, mahnendes Beispiel sei nur an die sog. „Dolchstoßlegende“ nach dem 1. Weltkrieg erinnert, die die deutsche militärische Niederlage 1918 dem Versagen der Heimat zuschrieb, und die bis zum Ende des 2. Weltkriegs einen verheerenden Einfluss hatte.

40 Jahre nach Kriegsende gibt ein Bundespräsident den Siegern mit dem Satz von der Befreiung recht. Das gibt es eher selten und ist in Washington, Paris, Moskau, London und anderswo sicher gern gehört worden. Natürlich war das Kriegsende für KZ-Insassen, Kriegsgefangene, Verschleppte, Verfolgte und andere betroffene Gruppen und Personen eine Befreiung. Aber die überwältigende Zahl der Deutschen hat das Kriegsende keineswegs als „Befreiung der Deutschen“ erlebt. Die Sieger haben das auch gar nicht gewollt. Sie standen Deutschen gegenüber, die sogar nach Hitlers Tod bis zum bitteren Ende weiterkämpften, die u. a. den Reichstag noch verteidigten, als die Rote Armee dort schon die Siegesfahne gehisst hatte. Auch die Millionen Flüchtlinge aus dem Osten haben die Vertreibung aus ihrer Heimat sicher nicht als Befreiung empfunden, ebensowenig wie die Diplomaten, die in Nürnberg vor Gericht standen und verurteilt wurden. Weizsäcker selbst hatte im Krieg bis zu seiner Verwundung im April 1945, d. h. bis kurz vor der Kapitulation in der Wehrmacht mitgekämpft und sein Leben eingesetzt (einer seiner Brüder war im Krieg gefallen).

Welches sind die die Motive und Gründe, die zu dieser Umdeutung geführt haben? Treibt die Unruhe, die im Versagen des Vaters in der NS-Zeit ihre Quelle hat, den Sohn zu einer Aussage, die fernab historischer Fakten liegt (Leopold von Ranke: „wie es eigentlich war“)? Haben sich Richard von Weizsäcker und mit ihm die Deutschen, die seine Rede überwiegend zustimmend aufgenommen haben, 40 Jahre nach Kriegsende Hegels berühmten - freilich umstrittenen - Satz zu eigen gemacht: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts)?

Ist es die Suche nach Anerkennung und Rehabilitation, nach einer Vergebung der Sünden, die den Satz von der „Befreiung“ hervorgebracht hat, weil die deutschen Funktionseliten Hitler bis zum Ende dienten und darin versagten, Deutschland aus eigener Kraft von Hitler zu befreien? Wälzte Richard von Weizsäcker mit der Akzeptanz der Schuld eine Last ab - von sich und als Bundespräsident von den Deutschen, von denen viele, insbesondere in den Funktionseliten ähnlich schwierige Biographien hatten oder aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis kannten? Ein ganzes Bündel von Motiven und Gründen kommen zusammen, die die Wirkungsmächtigkeit der Rede erklären können.

Die Umdeutung der "bedingungslosen Kaptitulation 1945" in eine "Befreiung" ist kein leeres Wort, keine rhetorische Floskel, sie hat Konsequenzen, sie hat ihren Preis: Wer den Sieg der Alliierten 40 Jahre später als Befreiung bezeichnet, kann nicht davon abstrahieren und trennen, was mit der Befreiung einherging und ihre Folgen waren. Es gab nicht nur langfristig als solche empfundene Wohltaten, sondern kurzfristig sehr schmerzhafte Maßnahmen der alliierten Sieger. Im persönlichen Bereich des Bundespräsidenten ist es die Verurteilung des Vaters Ernst von Weizsäcker durch das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal. Ohne als Befreiung umgedeutete Niederlage hätte es keinen Prozess und keine Verurteilung des ehemaligen AA-Staatssekretärs gegeben. Im Hinblick auf das deutsche Volk ist es der Verlust der Ostgebiete mit jahrhundertelanger deutscher Besiedlung, die ein Viertel bis ein Drittel des ehemaligen Staatsgebiets ausmachen. In letzten Fall hat Weizsäcker die Konsequenz gezogen und ist einer der engagiertesten Vertreter des Verzichts geworden. Noch heute gilt er z. B. den Polen deswegen als liebster deutscher Politiker von Rang. Im Fall seines Vaters ist Weizsäcker die Akzeptanz der Verurteilung als Konsequenz der Befreiung bisher schuldig geblieben, er will die Schuld seines Vaters nicht wahrhaben und stilisiert ihn noch heute zum Widerstandskämpfer.

Soviel zu einer problematischen Geschichtsumdeutung: die "Befreiung" hat ihren Preis. (Er geht über die genannten Punkte hinaus und ist in Wahrheit sehr viel höher; vgl. Guntram von Schenck, 8. Mai 1945: Tag der Befreiung? www.guntram-von-schenck.de). Richard von Weizsäcker hat diesen Preis noch nicht entrichtet, er sollte die Schuld seines Vaters, des AA-Staatssekretärs, unumwunden anerkennen, da ist nichts zu retten. Oder vertraut er darauf, die Legenden der Familie wie in der Vergangenheit mithilfe seines einflußreichen, familiären und politischen Netzwerks und des Beistands aus den Medien in der Öffentlichkeit durchzusetzen?

5) Holocaust und AA

Die AA-Beteiligung an der NS-Judenpolitik gehört zu den am meisten verstörenden Passagen des Buches. Die Einbindung und Verwicklung des AA in die Judenpolitik und Judenvernichtung des NS-Regimes wird anhand zahlreicher Dokumente nachgewiesen. Es waren nicht nur Einzelpersonen oder isolierte Referate, die wussten, was vor sich ging. Das AA war insgesamt involviert und ergriff einige Male sogar die Initiative. In dem Buch heißt es außerdem: “An der Entscheidung über die ""Endlösung"" war die Spitze des Auswärtigen Amtes direkt beteiligt. Das Schicksal der deutschen Juden wurde am 17. September 1941 besiegelt: An diesem Tag fand ein Treffen Hitlers mit Ribbentrop statt“ (Das Amt, S.185). Einer der bedeutendsten Holocaust-Forscher, Saul Friedländer (u. a. Das Dritte Reich und die Juden, München 2007), datiert diese fatale Entscheidung hingegen auf Dezember 1941 und verweist auf den Zusammenhang mit dem Kriegsverlauf (Interview, Der Spiegel 41/2007). Einen Zusammenhang mit Ribbentrop oder dem AA zieht er nicht in Erwägung. Es gibt für die Entscheidung zum Holocaust, d. h. die systematische Ermordung der europäischen Juden keine Dokumente, die eine genaue Datierung erlauben würden. Zumindest wurde bis heute nichts gefunden. Das Protokoll der Wannsee-Konferenz dokumentiert lediglich die Umsetzung der Entscheidung, die zuvor im engsten NS-Führungskreis, möglicherweise nur zwischen Himmler und Hitler selbst gefallen war. Ribbentrop galt in der NS-Hierarchie aber als Leichtgewicht.

Das Datum der Holocaust-Entscheidung ist eines der wichtigsten, weil fatalsten der jüngsten deutschen Geschichte; deshalb an dieser Stelle stichwortartig einige kurze Ausführungen (ausführlich und mit Quellenangaben: Guntram von Schenck, Kriegswende Dezember 1941 und Holocaust, www.guntram-von-schenck.de). Die Datierungsfrage steht im Zusammenhang mit dem 1941 alle Bereiche des Dritten Reiches erfassenden Kriegsverlauf. Bevor die Holocaust-Entscheidung zur systematisch betriebenen Vernichtung der Juden fiel, hatten sich die Pläne, die Juden zur Auswanderung zu nötigen bzw. umzusiedeln, als undurchführbar erwiesen. Der Kriegsverlauf hatte erst die Auswanderung nach Palästina und danach die Ansiedlung in Madagaskar hinfällig gemacht. Das ins Auge gefasste „Reservat“ in Polen wurde rasch verworfen, die Abschiebung nach Sibirien, die wohl die Wenigsten ohnehin hätten überleben sollen, scheiterte am ausbleibenden Sieg der Wehrmacht über die Sowjetunion.

Das Steckenbleiben der Wehrmacht vor Moskau im Dezember 1941 markiert das endgültige Aus all dieser Pläne. (Ein Teilnehmer des deutschen Angriffs auf Moskau, der ihn mit einer Panzerspitze bis in die Vororte der russischen Hauptstadt führte, war übrigens Paul Frank, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes 1970-1974). Hitler und sein engster Führungskreis standen im Dezember 1941 vor einer völlig neuen Entscheidungssituation, zumal das mörderische Wüten der Einsatzgruppen in Polen und der Sowjetunion an seine Grenzen stieß. Die „NS-Judenpolitik“ musste entweder erheblich radikalisiert oder – weil abträglich für die Kriegsführung – eingestellt oder zurückgestellt werden, wie das auch in anderen Bereichen wie z.B. der Kirchenpolitik, geschah.

Die Kriegslage spitzte sich im Dezember 1941 dramatisch zu. Die Sowjetunion war nicht besiegt, sie konnte nicht im ersten Anlauf überrannt werden. Der Zweifrontenkrieg, den Hitler immer vermeiden wollte, weil er seiner Meinung nach nicht durchzustehen war, war Realität geworden. Mit Großbritannien hatte das Deutsche Reich im Westen einen zähen Gegner, der kompromisslos weiterkämpfte. Schlimmer noch: mit der Kriegserklärung an die USA am 11. Dezember 1941 war im Westen dem Dritten Reich ein weiterer Feind erwachsen, der schon im Ersten Weltkrieg den Ausschlag zugunsten der Entente und gegen Deutschland gegeben hatte. Gegen diese Koalition war ein Krieg nicht zu gewinnen. Die gewaltige Überlegenheit der Alliierten an Menschen und Material würde sich auswirken und den Kriegsverlauf bis zum Sieg der Kriegsgegner über das Dritte Reich bestimmen. Das Deutsche Reich befand sich ab Dezember 1941 in einer – selbstverschuldeten - existenzbedrohenden Lage, das „finis Germaniae“ zeichnete sich ab. Hitler war sich dessen bewusst, nahm aber die drohende Niederlage Deutschlands in Kauf.

In dieser dramatischen Situation traf Hitler zwei Entscheidungen: Er radikalisierte den mit jedem Tag aussichtsloser werdenden Krieg, den er bis zum Endkampf um Berlin im April 1945 fortsetzte, ohne jemals ein Zurück oder ein Stopp ernsthaft auch nur in Erwägung zu ziehen. Und er radikalisierte die Judenpolitik hin zum systematisch betriebenen Völkermord. Die Motive liegen in der Psyche Hitlers (Ruhmsucht mag eine Rolle gespielt haben, vgl. Guntram von Schenck, Holocaust – Folge der Ruhmsucht Hitlers? ebd.). Schon am 30. Januar 1939 hatte Hitler in einer Rede im Reichstag den Juden gedroht, dass er sie zur Rechenschaft ziehen würde, sollten sie die Welt noch einmal in einen Weltkrieg stürzen. Beide Entscheidungen: Krieg bis zur wahrscheinlichen, immer absehbarer werdenden Niederlage und die Vernichtung der Juden in seinem Machtbereich gehören zusammen, sie sind unlösbar miteinander verknotet. Der radikalisierte Krieg bis zum Untergang und die Vernichtung der Juden im NS-Machtbereich sind die beiden Seiten der gleichen Medaille. Die Entscheidungen fielen im Dezember 1941.

Eine Beteiligung des AA und Ribbentrops an der Holocaust-Entscheidung ist nicht belegt und unwahrscheinlich. Die Argumente sprechen für den Kriegsverlauf im Dezember 1941 als Auslöser.

6) Die Reaktion des AA auf die Kontinuitätsfrage

In der internen Veranstaltung des AA zur Veröffentlichung von „Das Amt und die Vergangenheit“ am 29. Okt. 2010, die im Wortlaut als DVD zugänglich gemacht werden soll, sagte Staatssekretär Ammon im Schlusswort gleich im ersten Satz: Zwischen dem alten und dem neuen AA gebe es „keine gemeinsame Tradition, keine Brücke, und es darf auch keine geben“ (zit. nach FAZ, 02. 12. 2010). Das musste er sagen. Alles andere wäre verheerend und die AA-Leitung käme in Erklärungsnot, was nun Kontinuität ist und was nicht. Das muss man sich nicht antun.

Historiker und Publizisten sind da freier. Wer das Buch gelesen hat, kommt zu einem anderen Schluss: die Kontinuität drängt sich - zumindest in Teilbereichen - geradezu auf. Das gilt vor allem für das Personal. Adenauer wünschte zwar keine „restaurierte Wilhelmstrasse“ (Das Amt, S.450 f.), aber schon Blankenhorn, dem ersten Beauftragten für den Aufbau eines neuen Auswärtigen Dienstes gelang es, nahezu alle ehemaligen Diplomaten, die sich im Deutschen Büro für Friedensfragen zusammengefunden hatten, zu übernehmen (Das Amt, S. 451). Mit Wilhelm Melchers gelangte eine der Hauptfiguren der AA-Legendenbildung ins wichtige Amt des Leiters des Referats Personal Höherer Dienst (Das Amt, S. 455). Schon kurz nach der Gründung des neuen AA 1951 waren die entscheidenden Posten in den Händen von Ehemaligen (Das Amt, S. 469). Die Personalentwicklung im AA rief in der Öffentlichkeit und bei den Parteien so viel Kritik hervor, dass der Bundestag einen Untersuchungsausschuss (Nr. 47) einsetzte. Es kam nicht viel dabei heraus, weil Adenauer mit der „Nazi-Riecherei“ Schluss machen wollte (Das Amt, S.487).

Die Historikerkommission hält die Zahlen fest: zwischen 1949 und 1955 stammten 64,3% der AA-Beamten des höheren Dienstes aus dem alten Amt (Das Amt, S. 492); 1950 waren 42,3% der Beamten des höheren Dienstes ehemalige Mitglieder der NSDAP (Pgs), der Anteil ging dann 1952 auf 34,5% zurück. Für die Aufbauphase resümiert die Historikerkommission, dass rund ein Drittel ehemalige Pgs waren, je höher der Dienstrang, umso häufiger waren sie frühere Pgs. Knapp die Hälfte der Pgs im AA stammte 1952 nicht aus der alten Wilhelmstrasse (Das Amt, S. 494). Das Bonmot, nach dem Kriege habe es im AA mehr Pgs gegeben als vor dem Krieg, wird durch Zahlen unterstrichen: vor dem Krieg besaß rund ein Drittel der höheren Beamten der Berliner Zentrale ein NS-Parteibuch; mit mehr als 40% in der Bonner Zentrale Anfang der 50er Jahre lag der Anteil ehemaliger Pgs deutlich höher (Das Amt, S. 494). Wie auch immer diese Zahlen errechnet und verglichen wurden – es gibt da sicher die eine oder andere Frage - einen Kontinuitätsbruch signalisieren sie nicht.

Wichtiger als die Zahl die Zahl ehemaliger Pgs ist die direkte personelle Kontinuität zwischen altem und neuem Auswärtigen Amt. Auf der internationalen Bühne standen nun für den neuen, demokratischen Staat die gleichen Personen, die die NS-Politik vertreten hatten. Das irritierte und stellte für viele die Bonner Außenpolitik infrage. Der berühmte Korpsgeist des AA sei wieder mal am Werk gewesen und habe über den Systemwechsel für den inneren Zusammenhalt gesorgt, indem das Amt nach außen abgeschottet wurde (Das Amt, S. 496). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass noch 2-3 Jahre nach Abschluss der Nürnberger Prozesse eine Zusammenarbeit mit der Anklagebehörde als Ausschlussgrund für eine AA-Eignung galt (Das Amt, S. 548). Das Misstrauen gegenüber Emigranten war ebenfalls dominant (Das Amt, S. 544). Selbst Mitte der 60er Jahre fanden Mitglieder der US-Botschaft in Bonn am neuen Amt nicht den Wandel auffällig, sondern die Kontinuität: „Ein Vorkriegsbeamter des Auswärtigen Dienstes würde manches wiederfinden, was dem heutigen Auswärtigen Amt vertraut ist" (Das Amt, S. 503).

Egon Bahr, der als Leiter des Planungsstabs mit Willy Brandt 1966 ins Amt kam, ortete drei Gruppen: die Gruppe der Ehemaligen aus der Wilhelmstrasse, die aus Altersgründen allmählich kleiner wurde; die Neuen, die nach dem Krieg die Diplomatenausbildung durchlaufen hatten, die Bahr als „Snobs und Zyniker“ bezeichnete und schließlich die Seiteneinsteiger, die als Außenseiter nichts zu sagen hatten (Das Amt, S. 656). Gegen die Ehemaligen hatten die Westverbündeten wenig oder nichts einzuwenden, sie erschienen ihnen als die besseren, weil zuverlässigeren Partner (Das Amt, S. 497). Dafür gab es neben der Professionalität Gründe: die Ehemaligen suchten Anerkennung, dienten sich an und sahen sich - mehr oder weniger bewusst - in einer Bringschuld. Dazu trug auch bei, dass die Alliierten wussten - und auch die Ehemaligen sich dessen bewusst waren - , dass die Angriffe aus Ostberlin gegen viele AA-Personalien mit „brauner“ Vergangenheit überwiegend stimmten; die Angriffe wurden aber als Propaganda abgetan. Die Ehemaligen fanden in der Identifikation mit dem „Westen“ den Ersatz für eine nationalen Interessen verpflichtete Außenpolitik, wie sie z. B. für die Diplomaten Großbritanniens und Frankreichs auch im Kalten Krieg selbstverständlich war und blieb. Die Diplomaten aus der Wilhelmstrasse konnten nahtlos an alte antikommunistische Denkmuster anknüpfen. Eine Ausnahme bildeten die Neutralisten und Befürworter besserer Beziehungen zu Moskau, die bis hin zur Entspannungs- und Ostpolitik Willy Brandts von den Westalliierten mit einigem Argwohn beobachtet wurden.

Die Historikerkommission nennt mit der AA-Organisationsstruktur, Denk- und Verhaltensmustern des neuen AA weitere Anknüpfungspunkte an das alte Amt (z. B. Korpsgeist, Haltung gegenüber Seiteneinsteigern etc.). Das sollte nicht überbewertet werden. Darin unterscheidet sich das Auswärtige Amt wenig oder gar nicht von anderen klassischen Auswärtigen Diensten wie dem britischen Foreign Office oder dem französischen Quai d´Orsay.

Erinnerungssplitter: Aus meiner Zeit als Kultur- und Pressereferent der Botschaft Damaskus (1982-1985) ist mir ein Ausspruch, den ich damals zum ersten Mal hörte, in Erinnerung: „Das ist mir ein innerer Reichsparteitag“, wenn etwas besonders gut gelaufen war. Auch die Vorgänge um die Auslieferung Alois Brunners, eines engen Mitarbeiters von Adolf Eichmann, der in Syrien Zuflucht gefunden hatte, waren mir aufgestoßen. In Vertretung war ich seinerzeit mit dem – erfolglosen - deutschen Auslieferungsantrag befasst gewesen. Nach allem was ich in Erfahrung bringen konnte, hatte Alois Brunner zeitweise Kontakte zu Botschaftsangehörigen gehabt, die er mit deutschen Produkten wie Kartoffeln etc. versorgt hatte.

Entscheidend ist die personelle Kontinuität des AA und was daraus folgt. Es war das Bemühen um Akzeptanz und Anerkennung, das die Ehemaligen, die den Kern des neuen Auswärtigen Amtes bildeten, antrieb. Das reichte über das – natürlich legitime Streben nach Anerkennung und Wiedereingliederung der Bundesrepublik in die internationale Völkergemeinschaft hinaus - weit in den persönlichen Bereich hinein. Die Überwindung der Schmach von Nürnberg, dieser sperrige Riegel, der den Blick auf das angeblich „unbefleckte Amt“ verwehrte und die eigene Vergangenheit und das persönliche Versagen bloßlegte, setzte Abwehr- und Verdrängungsmechanismen frei, die sich u. a. in den Legendenbildungen niederschlugen.

Das kennzeichnende am neuen Amt ist nicht der Bruch sondern die personelle Kontinuität zum alten AA. Notabene: heute, 60 Jahre nach Neugründung des AA, haben sich die „Relikte des Neuanfangs“ ausgewachsen.

Optischer Bruch mit der Vergangenheit

Gleichwohl verfügte das AA als Zeichen eines - wenn auch verspäteten, zumindest optischen - Traditionsbruchs in einer Art "Bildersturm" das Abhängen der Portraits der Missionschefs der Auslandsvertretungen (sog. Ahnengalerien) aus der Zeit vor 1945. Haben nicht unter ähnlichem Impuls die Pharaonen im alten Ägypten die Hieroglyphen ungeliebter Vorgänger von den Tempelwänden kratzen bzw. ausmeisseln lassen, die französischen Revolutionäre 1792-1794 den Königs- und Heiligenfiguren in den Kathedralen die Köpfe abgeschlagen und die Taliban in Afghanistan die Buddha-Statuen zerstört? Aber die Vergangenheit kann nicht ausgelöscht werden; diese Art von Exorzismus hat noch nie funktioniert.

Guntram von Schenck, Dezember 2010





Fußnote, September 2013



Das Auswärtige Amt und die Listen


Das Auswärtige Amt (AA) gilt nicht ohne Grund als eine der besten Bürokratien in Deutschland. Das Personal, insbesondere das Spitzenpersonal im Höheren Dienst, ist sorgfältig ausgesucht und wird ebenso sorgfältig auf den Dienst vorbereitet; die anspruchsvolle Aufgabe, die Vertretung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland, erfordert eine effiziente, präzise und absolut zuverlässige Arbeitsweise. Der Ruf, dass dem so sei, eilt dem AA voraus bzw. wird vom AA wirkungsvoll in der Öffentlichkeit verbreitet.

Im AA werden wie überall in deutschen Bürokratien Listen geführt: Personallisten zum Höheren, Gehobenen, Mittlereren Dienst, Sekretärinnen, Ortskräfte, ehemalige Amtsangehörige und dergleichen mehr. Alles kann mit moderner Datentechnik ohne Probleme stets auf dem aktuellen Stand gehalten werden - was auch geschieht. Schon ohne moderne Datentechnik war die deutsche Bürokratie für ihre außerordentliche Akribie bei der Erstellung von Listen bekannt. Unrühmlichstes Beispiel: die Listen von Deportierten in die NS- Konzentrationslager.

Listen haben es in sich. Das gilt nicht nur für das genannte Beispiel. Es gilt auch für sog. "schwarze Listen", auf denen die geführt werden, die z. B. für eine Beförderung auf keinen Fall in Frage kommen, oder die entlassen werden sollen, oder die auf irgendeine Weise auffällig geworden sind, oder nicht in ein Schema passen usw. Solche Listen haben meist informellen Charakter, sie scheuen das Licht der Öffentlichkeit. Oder sie werden von Insidern geführt, die deren Existenz rundweg bestreiten. Wer je in einer größeren deutschen Bürokratie gearbeitet hat, dürfte zumindest gerüchteweise davon gehört haben.

Schon in der Antike gab es Listen. Die bekanntesten sind wohl die Proskriptionslisten der alten römischen Republik. Sie wurden von Sulla im 1. Jh. v. Chr. und wenige Jahrzehnte später von Marc Anton und Octavian, dem späteren Kaiser und Imperator Augustus erstellt. Auf den Proskriptionslisten standen Gegner aus den Bürgerkriegen, d. h. Staatsfeinde, die zu töten waren und deren Vermögen konfisziert wurde. Berühmtestes Opfer war Cicero, der als Politiker, Rhetor und Schriftsteller die alte römische Republik verteidigt und dadurch den Zorn Marc Antons provoziert hatte. Augustus verdankte ihm viel, konnte (oder wollte) ihn aber nicht schützen.

Nun zu den Erfahrungen des Autors mit Listen des AA

Es gibt aber auch Listen, auf denen man besser draufsteht.

Vorausgeschickt werden muss, dass der Autor als "Seiteneinsteiger" und auf einem begehrten Botschafterposten in Rom (FAO, WFP, IFAD) eine gewisse Aufmerksamkeit genoss. Generell sind Seiteneinsteiger im AA nicht gern gesehen, noch weniger, wenn sie Posten in beliebten, angenehmen oder interessanten Städten innehaben. Denn diese Posten werden den "Berufsdiplomaten", den sogenannten "AA-Eigengewächsen" gewissermaßen "vorenthalten". Man kann den Ärger ja irgendwie verstehen, wenn man viele Jahre an von Malaria verseuchten Orten oder in uninteressanten Kleinstaaten oder als kleines Licht in der Zentrale in Berlin (früher Bonn) Dienst tun muss. Jedenfalls Grund genug für Eigengewächse, sich gründlich und massiv über diese Seiteneinsteiger zu ärgern.

Im Herbst 2010 sollte die von Außenminister Joschka Fischer in Auftrag gegebene Studie zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes "Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik", Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann, Blessing Verlag, München 2010) in Berlin im AA vorgestellt und von den Amtsangehörigen diskutiert werden (29. Oktober 2010). Schon im Vorfeld war durchgesickert, dass der Inhalt der Studie für das AA wenig Schmeichelhaftes enthalten dürfte. Auf den Fluren des AA und in den Botschaften wurde diskutiert, dass die Studie an Außenstehende vergeben worden war, es sich also nicht um eine amtsinterne Aufarbeitung oder um eine Untersuchung durch das dem AA nahestehende Institut für Zeitgeschichte in München handelte.

Der Autor, selbst promovierter Historiker, war natürlich hochinteressiert. Schließlich hatte er seinen "Seiteneinstieg" in das AA auch Außenminister Joschka Fischer zu verdanken. Er befand sich 2010 zwar schon einige Jahre im Ruhestand, aber die Veranstaltung am 29. 10. 2010 war auch für ehemalige Amtsangehörige, also Ruheständler offen. Es waren insbesondere ehemalige Amtsangehörige, bekannt auch als "Mumien", die sich für die Ergebnisse der Studie interessierten. Hatte doch ein Streit des Außenministers mit ehemaligen Amtsangehörigen, die sog. "Nachrufaffäre", den Forschungsauftrag ausgelöst. Einer großen Zahl von Ruheständlern war eine Änderung der Nachrufpraxis aufgestoßen; denn Außenminister Joschka Fischer verweigerte ehemaligen Amtsangehörigen, die NS-Mitglieder gewesen waren, einen ehrenvollen Nachruf.

Der Autor meldete sich etwa 2 Wochen vor der Veranstaltung beim AA-Referat, das für die Organisation zuständig war. Das Referat teilte mit, dass es für ehemalige Amtsangehörige keiner besonderen Einladung, Benachrichtigung o. ä. bedürfe: eine Liste läge an der Hauptpforte aus und der Autor würde selbstverständlich zwecks Teilnahme eingelassen. (Zum Verständnis: nicht jeder kann einfach ins AA hineinspazieren. Ein Dienstausweis ist erforderlich oder man wird als Außenstehender für ein dienstliches Geschäft üblicherweise an der Pforte abgeholt. Das ist auch völlig in Ordnung und wird in vielen Dienstgebäuden ebenso gehandhabt.) Ich präsentierte mich also am Morgen des 29. Oktober 2010 an der Pforte des AA.

Um es kurz zu machen: es gab offenbar eine Liste, aber ich stand nicht drauf. Da ich insistierte und mich nicht abwimmeln ließ, fragten Mitarbeiter der Pforte beim organisierenden Referat, beim Personalreferat und dort, wo die Liste der Ruheständler geführt wird, nach. Und siehe da, ich stand ich auf keiner Liste: weder als ehemaliger Botschafter, noch als ehemaliger Amtsangehöriger, und - wie gesagt - auch nicht auf der Teilnehmerliste. Das war schon kurios. Auf den geläufigen AA-Listen war ich nicht erfasst. Das wurde mir vom Personal an der Pforte, das ich beharrlich zu Nachforschungen antrieb, und das schließlich einen herbeigerufenen Sicherheitsbeamten einschaltete, mitgeteilt.

Schließlich fragte mich ein Sicherheitsbeamter, wen ich im AA kennen würde, der mich identifizieren könne. Ich nannte ihm einige Namen, wusste aber nicht, ob diese wegen der üblichen Rotation zwischen In- und Ausland gegenwärtig im AA in Berlin seien. Das Hickhack dauerte etwa 20 Minuten. Da ich nicht nachgab, begleitete mich der Sicherheitsbeamte letztendlich zum Saal, in dem die Veranstaltung stattfinden sollte. Ich traf dort zufällig auf Boomgaarden, früherer Staatsekretär und 2010 Botschafter in London, der mich begrüßte. Der Sicherheitsbeamte überließ mich daraufhin meinem Schicksal, behielt mich aber, wie ich am Schluss der Veranstaltung bemerkte, im Auge.

Während der Veranstaltung meldete ich mich zu Wort und unterhielt mich mit mehreren der ehemaligen KollegenInnen, meist Mumien wie ich, die sich in den ersten Reihen massierten. Abschließend ließ ich mir von den Autoren Conze, Frei, Hayes und Zimmermann das Buch signieren. Der Sicherheitsbeamte lachte mir zum Abschied zu: ich hatte den Eindruck, dass er auf seine "mutige" Tat, mich einzulassen, nochmals hinweisen wollte. Vielleicht war er ja auch - aus seiner Sicht - ein Risiko eingegangen und war nun erleichtert. Ich nickte ihm zu und verließ das Amtsgebäude. Jedenfalls sei ihm auf diese Weise gedankt.

Zurück am heimatlichen Bodensee versuchte ich herauszufinden, warum ich auf keiner einschlägigen Liste stand und wandte mich zunächst an VLR Fischbach, den "Beauftragten", der die Veranstaltung organisiert hatte. Erst nachdem ich Dritte (Redaktion "aa intern") eingeschaltet hatte, bequemte er sich zu einer Stellungnahme: er wisse von nichts, zu den Listen könne er auch nichts sagen. Meiner Bitte, mir die CD mit der Aufnahme der Buchvorstellung im AA zur Verfügung zu stellen, deren Veröffentlichung angekündigt worden war, entsprach er erst nach Wiederholung meiner Bitte mit der "ausdrücklichen" Warnung, sie nicht zu "missbrauchen". Bravo...!

Ich beließ es vorerst dabei, schrieb und veröffentlichte meine Rezension zum Buch "Das Amt und die Vergangenheit" unter dem Titel: "Das Auswärtige Amt und die Vergangenheit oder Vom Kratzen an den Tempelwänden" (Guntram von Schenck, Schriften zur Politik und Geschichte, Höri-Mettnau-Verlag, Radolfzell 2013, S. 221 - 234; www.guntram-von-schenck.de). Ich erhielt einige kritische Zuschriften, allerdings nicht von Amtsangehörigen. In der heftigen öffentlichen Diskussion und bei der großen Zahl von Stellungnahmen ging meine Buchbesprechung in der öffentlichen Wahrnehmung zunächst etwas unter. Seit einigen Monaten steht sie allerdings bei Google beim Eintrag "AA Vergangenheit" oder "Vergangenheit AA" auf Platz 1 der Suchergebnisse.

Nochmals AA-Listen

Vielleicht stimmt ja sogar, was Fischbach zu den Listen sagte. Merkwürdig war aber, dass mir Ähnliches mit dem AA schon einmal passiert war. 1982 -1985 war ich befristet - ebenfalls als "Seiteneinsteiger" - an der Deutschen Botschaft Damaskus als Presse- und Kulturreferent tätig gewesen. Nach meiner Rückkehr aus Damaskus 1985 wollte ich eine Veröffentlichung anbahnen und erwähnte auch meine Zeit in Damaskus. Die Redaktion fragte beim AA nach, das - so wurde mir dann bedeutet - verneinte, dass ich dort an der Botschaft war. Wieder so eine Liste...? Eine für mich unangenehme und schädliche Situation. Jedenfalls kam die Veröffentlichung in der geplanten Form nicht zustande.

Nachdem ich im Jahr 2000 wieder im AA zurück war, schien niemand zu wissen, dass ich 1982-1985 an der Botschaft Damaskus war. Jedenfalls hielten Personalreferat und Personalabteilung diese Information gegenüber AA- KollegenInnen zurück. KollegenInnen im AA, denen gegenüber ich meine Zeit in Damaskus erwähnte, zeigten sich überrascht und verwundert, weil das Personalreferat nichts darüber hatte verlauten lassen. Vielleicht war der Personalabteilung peinlich, dass ich, dessen dauerhafte Übernahme 1985 abgelehnt worden war, jetzt mit wesentlich höherer Besoldung und als Botschafter wieder zurück im AA war. Die KollegenInnen, die zeitgleich mit mir in Damaskus gewesen waren, wussten natürlich trotzdem Bescheid. Aber auffällig und merkwürdig ist diese Art der Personalführung schon.

Alles nur Zufall? Oder ein Fall (hoffentlich milder) Paranoia? Wie auch immer: Von einer perfekten und perfekt durchorganisierten Bürokratie, wie sie das AA nun einmal sein will, sollte man erwarten, dass Listen ordentlich geführt werden (können). Das gilt besonders für die Liste ehemaliger Botschafter, die naturgemäß nicht besonders groß und übersichtlich ist.

Dr. Guntram von Schenck, September 2013


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