Erzberger, Wegweiser für die Zukunft
Guntram von Schenck,  November 2008
 

Vortrag

gehalten in Biberach (Riß) am 14.11.2008 zum Gedenken an den Waffenstillstand vom 11.11.1018 in Compiègne, der den 1. Weltkrieg beendete.

(Erweiterte Fassung von “Matthias Erzberger (1875-1921). Außenpolitiker und Reichsfinanzminister”, Juli 2007

 
Erzberger: Wegweiser für die Zukunft

Historische und aktuelle Bedeutung des großen Politikers

Es sind vier Aspekte des Lebens und Wirkens Erzbergers, die für unsere Zeit bedeutsam sind, und auf die ich mich - schon aus Zeitgründen - beschränken muss:

-  Erzberger als neuer Typ des parlamentarischen Politikers

-  Erzberger, der Sozialismus und die Sozialdemokratie

-  Erzberger als Föderalist und die Reichsfinanzreform

-  Erzberger als Außenpolitiker

I.  Erzberger als neuer Typ des parlamentarischen Politikers 

Eindrucksvoll trat mit Erzberger in Deutschland ein neuer Politikertyp auf, der die alten politischen Eliten - hohe Beamte, Aristokraten, Angehörige des Hofes - an den Rand drängte. Die neue Bühne war das Parlament, die Parteien das Umfeld, in dem sie sich durchsetzen mussten.

Wir dürfen  nicht den Fehler machen, Erzberger zu einer Art blutleeren Heroen zu stilisieren und auszubleichen. Das Gegenteil ist richtig. Erzberger liebte das Leben, war umtriebig und gesellig. Er kam, als er mit 28 Jahren 1903 zum Reichstagsabgeordneten im Kreis Biberach gewählt wurde, für die damalige Zeit gewissermaßen aus dem Nichts. 1875 in äußerst bescheidenen Verhältnissen in Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb in einem provinziell katholischen Umfeld geboren und aufgewachsen, ohne akademische Ausbildung (nur Volksschullehrerseminar) brachte er nichts mit, was ihn in einem protestantischen, norddeutsch, preußisch-aristokratisch und höfisch geprägten Milieu in Berlin zum Erfolg verhelfen konnte und für Höheres auswies.

Dennoch war er an fast allen wichtigen politischen Ereignissen zwischen 1903 und 1921 maßgeblich beteiligt. Das gilt für die Aufdeckung der Kolonialskandale 1905/1906, seine Tätigkeit während des 1. Weltkrieges als Leiter der Auslandspropaganda und eines Nachrichtendienstes, die Friedensresolution des Reichstags vom 19. Juli 1917, die Ausreise Lenins aus der Schweiz nach Russland 1917, die Verhandlungsführung der deutschen Waffenstillstandskommission in Compiègne und die Unterschrift unter dieses Dokument  am 11.11.1918, die Durchsetzung der Annahme des Versailler Friedensvertrags am 23. Juni 1919 bis zur großen Reichsfinanzreform 1920. Aus einer Partei, dem Zentrum, in der er umstritten war und nie die formale Führung innehatte, und einem Parlament, das bis Herbst 1918 fast ohnmächtig war, erreichte er in Schwindel erregendem Tempo einen Aufstieg, der die Zeitgenossen immer wieder verblüffte. Was für ein politischer Weg, den er bis zu seiner Ermordung am 26. August 1921 durchschritt! 1921 war er erst 46 Jahre alt - oder jung. Kein Wunder, dass er Objekt von Bewunderung, aber auch Hass und übler Nachrede wurde. Kaum ein Politiker der Weimarer Republik war umstrittener als er.

Zur Illustration drei Zitate zu Erzberger:

Artikel im Alpenbote vom 18.04.1918: ”Er ist da. Unser freundlicher Nachbarort Schliersee ist über Nacht Mittelpunkt der Welt, Nabel der Erde geworden. Der Großmogul von Buttenhausen, Präsident der deutschen Republik, Herzog von Albanien und Litauen, Gelbfüßler von Biberach, Spiegel-, Blitz- und Knöpfleschwab, Großkomtur vom Spinnrad, Matthias Erzberger, ist mit Gefolge dort eingetroffen. Lord Balfour wird erwartet, Clemenceau wir inkognito eintreffen. Man sagt, dass Erzberger im Hotel Seehaus den Frieden diktieren wird” (zit. nach K. Epstein, S.274).

Graf Harry Kessler, Abg. Reichstag, Tagebuchnotizen vom 25. Juli 1919: “Als Graefe (der Erzberger im Reichstag schwer angegriffen hatte, d. Verf.) sich setzte, hatte man das Gefühl, dass die Situation rhetorisch nicht mehr gesteigert werden konnte. Erzberger mit seiner Spießergestalt, seinem klobigen Dialekt, seinen grammatischen Sprachfehlern fiel zunächst ganz ab, obwohl er sehr geschickt und dramatisch anfing mit: Ist das alles?` Ich stand unmittelbar hinter ihm an der Rednertribüne, sah seine schlecht gemachten platten Stiefel, seine drolligen Hosen, die über Korkenzieherfalten in einem Vollmondhintern münden, seine breiten untersetzten Bauernschultern, den ganzen fetten, schwitzenden, unsympathischen Kerl in nächster Nähe vor mir: jede ungelenke Bewegung des klobigen Körpers, jeden Farbwechsel in den dicken, prallen Wangen, jeden Schweißtropfen auf der fettigen Stirn. Aber allmählich wuchs aus dieser drolligen, schlecht sprechenden ungeschickten Gestalt die furchtbarste Anklage empor, die schlecht gemachten, schlecht gesprochenen Sätze brachten Tatsache auf Tatsache, schlossen sich zu Reihen und Battaillonen zusammen, fielen wie Keulenschläge auf die Rechte, die ganz blaß und in sich zusammengeduckt und immer kleiner und isolierter in ihrer Ecke saß” (Tagebücher 1918-1937, Frankfurt/M, 1961).

Helfferich-Pamphlet “Fort mit Erzberger”: “Das ist der Herr Erzberger, der sich gegen die von allen Seiten auf sein politisches und persönliches Verhalten anstürmenden Anklagen nicht etwa dadurch schützt, dass er diese unwiderleglichen Anklagen zu widerlegen sucht, sondern dadurch, dass er falsche und verleumderische Anklagen gegen seine Ankläger erhebt! Das ist der Herr Erzberger, der nicht doppelt und dreifach, sondern 10- und 20fach von allen Seiten der Unwahrheit geziehen wird; der sich eine unsaubere Vermischung politischer Tätigkeit und eigener Geldinteressen zum Vorwurf machen lassen muss; der auf alle diese Anschuldigungen trotz schärfster Herausforderung nicht klagt sondern kneift und nach Art des Tintenfisches das Wasser trübt, um zu entwischen… etc” (Berlin 1919, S. 81 ff.). Den nachfolgenden Beleidigungsprozess gegen Helfferich verlor Erzberger unglücklich in 1. Instanz, was 1920 zu seinem zeitweiligen Rückzug aus der Politik führte.

Wir sehen einen Politiker mitten im Getümmel der öffentlichen Auseinandersetzung.  Erzberger provozierte Ironie, nötigte Respekt ab, aber er weckte auch blanken Hass. Selten haben sich alte Eliten von neuen Eliten verdrängen lassen, ohne die Vertreter der neuen Eliten heftig zu bekämpfen und zu diffamieren. Die Auseinandersetzungen zwischen Helfferich, einem typischen Vertreter der alten Eliten, der es immerhin zum Vizekanzler gebracht hatte, und Erzberger legen davon beredtes Zeugnis ab. Mit Todesfolge: die Attentäter haben Helfferichs Pamphlet “Fort mit Erzberger” wörtlich genommen.

Erzberger war enorm durchsetzungsfähig, er entwickelte im Parlament er eine unglaubliche Durchschlagskraft. Seine außerordentliche Verantwortungsfreude und sein Geschick im Umgang mit Mitarbeitern halfen ihm dabei. Er erspürte nicht nur zukunftsträchtige Themen und neue Mehrheiten, er konnte sie auch organisieren und bündeln. Bestes Beispiel ist die Friedensresolution des Reichstags von 1917, als er eine Koalition von Zentrum, Linksliberalen und Mehrheitssozialdemokraten schmiedete und die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse  von rechts nach links verschob. Statt - wie wir heute sagen würden: Mitte rechts, Mitte links. Es gelang ihm, den Versailler Friedensvertrag gegen alle Widerstände im Reichstag durchzudrücken - wenn auch letztlich nur mittels eines Geschäftsordnungstricks. Ein weiteres Beispiel ist die Reichsfinanzreform. Er schien in allen Gremien präsent, ja allgegenwärtig zu sein. Sein Einfluss war dominant, obwohl er noch nicht einmal in der eigenen Fraktion einhellig unterstützt, ja von dort oft behindert wurde. Entscheidenden innerparteilichen Rückhalt verschaffte er sich stets in der süddeutschen, insbes. württembergischen Zentrumspartei, die ihn selbst dann stützte, wenn ihn Parteispitze und Fraktionsvorstand des Zentrums kalt stellen wollten.

Erzberger war ein Multitalent der Öffentlichkeitsarbeit. Als Abgeordneter gab er eine katholische Korrespondenz heraus, deren Artikel im ganzen Land nachgedruckt wurden. Er muss seine Analysen und Ansichten so gut unter die Leute gebracht haben, dass ihm das Auswärtige Amt und das Marineamt zu Beginn des 1. Weltkrieges die Leitung der Auslandspropaganda antrugen - ein absolut erstaunlicher Vorgang. Der kaiserliche Beamtenstaat  und Militärapparat übertrug einem jungen Parlamentarier diese wichtige Aufgabe, die früh als mitentscheidend für den Kriegausgang erkannt wurde. Erzberger war als Leiter der Aslandspropaganda nicht zimperlich und kaufte z. B. nützliche Journalisten, startete mit Geld Pressekampagnen, kaufte verdeckt Zeitungen im Ausland auf etc. Es war Krieg und es kam darauf an, das neutrale Ausland zugunsten Deutschlands zu beeinflussen.

Die Pressearbeit verschaffte ihm viele nützliche Kontakte, so dass er schließlich einen Nachrichtendienst aufbauen konnte. Schon als junger Abgeordneter hatte er sich bei der Aufdeckung der Kolonialskandale nicht gescheut, auf ungewöhnlichem Wege Informationen zu sammeln, die ihm nützlich waren; eine Tatsache, die seine Gegner dann auch gegen ihn auch ausschlachteten.  Das Geld kam im Krieg vom Auswärtigen Amt. Erzberger war nach der Friedensresolution 1917 von der Regierung, die am Kriegskurs festhielt, weitgehend kalt gestellt worden. Nach dem Bedeutungs- und Machtgewinn des  Parlaments im Herbst 1918 wurde er dann Staatssekretär, zunächst ohne Portefeuille, dann wieder zuständig für  Propaganda. Er muss es gut gemacht haben. Er war das, was man heute einen genialen Kommunikator nennen würde. Allerdings vermag Propaganda wenig gegen allzu widrige Umstände.

Den Zeitgenossen wurde bei Erzbergers vielfältigen Aktivitäten zuweilen schwindlig. Seine Auffassungsgabe war schnell, für die meisten zu schnell, sie konnten ihm nicht folgen. Fast noch schneller entwickelte er Projekte und fasste Entschlüsse. Erzberger wirkte auf viele wie ein Chamäleon. Einige zogen daraus den Schluss, dass ihm nicht zu trauen sei. Dass er sich trotzdem immer wieder durchsetzte, verstörte sie. Mit diesem neuen Politikertyp kamen sie nicht zurecht. Erzberger verkörperte früh das im 20. Jahrhundert auch in Deutschland heraufziehende Zeitalter des Parlamentarismus und parlamentarischer Politiker. Den Vertretern der alten deutschen Eliten war er als Politiker haushoch überlegen. In ihm fanden die französischen und britischen Politiker einen ebenbürtigen Widerpart.

 II. Erzberger, der Sozialismus und die Sozialdemokratie 

Beispielhaft für Erzbergers Einsichts- und Wandlungsfähigkeit ist sein Verhältnis zur Sozialdemokratie. In einem Zeitungsartikel vor dem 1.Weltkrieg formulierte er: ”Das größte Problem, das der inneren Politik des Reiches zur Lösung gestellt ist, ist die Zertrümmerung der gewaltigen Macht der Sozialdemokratie; hinter dieser Kernfrage des innerpolitischen Lebens stehen alle anderen zurück… Rechte, Zentrum und Nationalliberale müssen ihn (d.h. den Kampf gegen die Sozialdemokratie, d. Verf.)…mit aller Entschiedenheit und allen Konsequenzen aufnehmen und geschlossen führen - im Interesse des Staatsganzen. Es gibt keine notwendigere Aufgabe der Gegenwart als diese, und die künftige Generation würde uns nie von der Schuld des Parteiegoismus, der berechtigten Anklage der politischen  Kurzsichtigkeit und Unfähigkeit lossprechen können, wenn diese Parteien versagen wollten” (Der Tag, 13. Mai 1914, zit. nach K. Epstein, S.113).

Erzberger war Zeit seines Lebens Anhänger der kath. Soziallehre. Er galt auch als Sozialexperte seiner Partei. Als gläubiger Katholik, der - soviel wir wissen - nie eine Glaubenskrise durchmachte, verteidigte er diese Lehre in scharfer Abgrenzung zu den seinerzeit atheistischen Sozialisten. Es war die Ablehnung des Atheismus, die Erzberger früh in die Gegnerschaft zur Sozialdemokratie trieb. Denn Erzberger hat den Kapitalismus durchaus kritisch gesehen. 1921, also noch vor der Weltwirtschaftskrise formulierte er: “Das kapitalistische System hat den Arbeiter entseelt. Es hat das innere Band zwischen der Persönlichkeit des Arbeiters und der Arbeitsstätte, diese unentbehrlich Voraussetzung freudigen Schaffens, eherner Energie und höchster Kraftentfaltung zerschnitten. Der Arbeiter wurde - ich spreche absichtlich in spitzen Ausdrücken, um in die Wand jahrzehntelanger Vorurteile und Voreingenommenheiten einzudringen - als eine Nummer, als ein wirtschaftlicher Zuchthäusler behandelt, der zur festgesetzten Stunde kam, seine Nummer erhielt, seine Tagesstunden seelenlos und widerwillig abarbeitete… er sah im Papierkapitalismus, dessen Träger ihm ganz fremd waren, seinen Bedrücker und Aussauger” (Christlicher Solidarismus als Weltprinzip, Mönchen-Gladbach, 1921, S.7).

Es war nicht die Affinität in der sozialen Frage, die Erzberger an die Sozialdemokratie heranrücken und zum Bündnispartner machen ließ. Angesichts der schon im Sommer 1917 desolaten Kriegslage suchte Erzberger Verbündete für das Ziel, einen Verständigungsfrieden herbeizuführen. Neben den Linksliberalen bot sich hierzu nur die Sozialdemokratie an. Mit den Mehrheitssozialdemokraten und den Linksliberalen (Fortschrittspartei) schmiedete er deshalb ein Bündnis, das in die Friedensresolution des Reichstags vom 19. Juli 1917 mündete. Alle Begleitumstände können hier nicht ausführlich wiedergegeben werden, wichtig sind die Folgen. Die Sozialdemokraten, bis dahin als “vaterlandslose Gesellen” und “Vaterlandsverräter” verketzert, ausgegrenzt und verleumdet, die Bismarck mit den Sozialistengesetzen bekämpfte, bildeten nun mit dem Zentrum und den Linksliberalen eine Mehrheitskoalition im Reichstag. Es war die völlige Umkehrung bisheriger Mehrheits- und Machtverhältnisse im Reich. Vorher hatte das Zentrum die politische Rechte gestützt und zur Mehrheit verholfen. Im Sommer 1917 ging es um die existentielle Frage von Krieg und Frieden. Die Sozialdemokratie wird fortan dank Erzberger die Geschicke Deutschlands entscheidend mitbestimmen. Es ist dieses Bündnis von Linksliberalen, Sozialdemokratie und Zentrum, das die Weimarer Republik tragen sollte.

Wenn wir heute in Deutschland mit der Bundeswehr eine Parlamentsarmee haben, deren Einsatz nur vom Bundestag beschlossen werden kann, geht auch das auf die Erfahrung der Zeit Erzbergers zurück. Keine Regierung  kann sich heute - wie 1917  - über den erklärten Mehrheitswillen des Parlamentes hinwegsetzen. Nach heutigem Verfassungsrecht wäre von deutscher Seite 1917 rechtzeitig ein Verständigungsfrieden gesucht worden. 

III. Erzberger als Föderalist und die Reichsfinanzreform

Als Erzberger im Juni 1919 zum Reichsfinanzminister ernannt wurde, schien er vor einer unlösbaren Aufgabe zu stehen. Die Reichsfinanzen konnten zerrütteter gar nicht sein. Die Last der Kriegsanleihen, von deren Rückzahlung das Wohlergehen so vieler Menschen abhing, die anstehenden Reparationszahlungen an die Entente-Mächte , wie sollte und konnte diese Aufgabe geschultert werden? Das Reich war zudem in Steuersachen Kostgänger der Länder, bei denen die Steuerhoheit lag. Erzberger übertrug als erstes die Steuerverwaltung auf das Reich und zentralisierte sie in Berlin. Das war revolutionär nicht nur im Verhältnis von Ländern und Reich, weil das föderale Machtgefüge zugunsten Berlins umgewälzt wurde. Es war ein süddeutscher Partikularist, der schwäbische Abgeordnete Erzberger, der stets auf die Eigenständigkeit der Länder gepocht hatte, der dies zustande brachte. Wahrscheinlich konnte nur einer wie er solches bewerkstelligen. Denn er brauchte dazu  natürlich auch die Zustimmung der  Länderkammer (heute Bundesrat).

In der Sache selbst hat Erzberger, Vertreter der kleinen Leute, die Reichseinkünfte weniger auf die Verbrauchssteuern gestützt, wie es im Kaiserreich geschah, sondern hat die großen Vermögen herangezogen und eine einheitliche Einkommenssteuer eingeführt. Damit wurden im Reich erstmals steuerrechtlich einheitliche Lebensverhältnisse geschaffen. Es wurde  für Großverdiener uninteressant in ein anderes Land, etwa Baden umzuziehen, nur weil dort ein anderer, günstigerer  Steuersatz galt. (Ein Thema, das heute in Europa und in der EU wieder hochaktuell ist.) Nur mit einer für alle Bürger gleichen Besteuerung der Einkünfte und Vermögen ließen sich die gewaltigen Finanzlücken schließen. Aber die bis dahin unbedeutende Veranlagung und Besteuerung der großen Vermögen wurde von den Betroffenen als konfiskatorisch empfunden und deshalb als extrem ungerecht empfunden. Wo und wann würde sie das nicht? In den emotional aufgewühlten Anfangsjahren der Weimarer Republik umso mehr. Es fällt nicht schwer, die Aufregung und Empörung nachzuvollziehen. Trotzdem hat Erzberger das allein richtige getan. Er hatte die Unpopularität nicht gescheut.

Ein Politiker, der diese schwere Verantwortung auf sich nahm, verdient auch heute, ja gerade heute unseren höchsten Respekt.  Die Inflation von 1923 konnte Erzberger nicht voraussehen. Sie hat auch die Grundlagen seines Werkes nicht zerstört. Erzberger hat Deutschlands Finanzen auf ein Fundament gestellt, auf dem es heute im wesentlichen noch steht. Das eigentliche Verdienst Erzbergers besteht aber nicht darin, dass er das richtige erkannt und formuliert hat. Gute Vorschläge haben auch damals schon viele gemacht. Nein: dass er es durchgesetzt hat! Der Regierungs- und Parlamentsbetrieb war damals auch nicht einfacher als heute, das Reich- Länderverhältnis damals wie heute das Bund-Länderverhältnis kompliziert und vertrackt. Und dennoch: Erzberger hat es geschafft. Er war, wie Zeitgenossen berichten, in den Beratungen allgegenwärtig. In nur 8 (acht!) Monaten gelang es Erzberger, die Reichsfinanzreform unter Dach und Fach zu bringen. Am 12. März 1920 wurde das letzte Gesetz des Reformpakets verabschiedet.

Im Spannungsverhältnis zwischen Reich (heute Bund) und Ländern war es Erzberger gelungen auf dem umstrittensten Gebiet, nämlich dem der Finanzen einen Ausgleich herbeizuführen. Heute stehen wir wieder vor ähnlichen Aufgaben. Ein Erzberger ist allerdings - soweit ich sehe -  nicht in Sicht.

Erzberger als Außenpolitiker 

Wenden wir uns nun den umstritteneren Punkten im Wirken Erzbergers zu, die zumeist mit seiner Rolle in der Außenpolitik zusammenhängen.

Vieles hat sich von selbst erledigt. Wir wissen heute, dass die Kritik Erzbergers an der Kolonialpolitik 1905/1906 richtig war und eine solche Kritik hilft und notwendig ist, um Missstände abzustellen. Die Missstände gab es und sie wurden überwiegend abgestellt. Das gilt auch dann, wenn in ihrem Gefolge die Regierung von Bülow stürzte und 1919 in Versailles die Kritikpunkte Erzbergers von den Siegermächten zum Vorwand genommen wurden, Deutschland die Kolonien abzunehmen.

Historischer Aufklärungsbedarf besteht noch zu Erzbergers Propagandatätigkeit im Krieg und als Chef eines vom Auswärtigen Amt finanzierten Nachrichtendienstes. Wir wissen zuwenig darüber. Auch die Propagandatätigkeit war ihm vom Auswärtigen Amt angetragen worden. In dieser Funktion nahm er an den meisten täglich stattfindenden geheimen Lagebesprechungen im Auswärtigen Amt teil. Er war ohne Zweifel der bestinformierte Abgeordnete des Reiches, der frühzeitig einen realistischen Einblick in die außenpolitische Lage des Reiches während des Krieges bekam.

Es war kein Zufall, dass man ausgerechnet ihn mit der schwierigen Mission betraute, Italien vom Kriegseintritt abzuhalten. Dreimal reiste er mit offizieller Unterstützung (Diplomatenpass, Hilfestellung durch Deutsche Botschaft Rom) nach Rom. Stützen konnte er sich vor allem auf den Vatikan, zu dem er als tiefgläubiger Katholik und Spitzenpolitiker der katholischen Zentrumspartei einen guten Zugang hatte.  Mit Erzberger setzte der deutsche Katholizismus mittels Diplomatie sein ganzes Gewicht und seinen Einfluss  ein, um eine für das Reich günstigere Kriegslage zu erreichen bzw. zu erhalten. Das war keineswegs selbstverständlich. Der “Kulturkampf“, den Bismarck gegen die katholische Kirche geführt hatte, lag noch nicht lange zurück.

Die Kritik  Theodor Eschenburgs, Erzberger sei “nicht vom Fach” und als “Amateurdiplomat” unterwegs gewesen, geht vollkommen an der Sache vorbei (Th. Eschenburg, Matthias Erzberger, München 1973, S. 35 ff). Damals wurden - wie auch heute -  Personen mit halboffiziellem Status zu Missionen im Ausland eingesetzt,  wenn es darum ging, politische Positionen zu explorieren oder zu sondieren. Das gilt insbesondere dann, wenn man sich davon einen besonderen Zugang und möglicherweise eine potentiell positive Einflussnahme versprach. Es gibt Fälle, in denen sich die Regierung nicht (oder noch nicht) selbst exponieren und engagieren kann. Dann wird auf diese Weise versucht auszuloten, was evtl. möglich ist. Erzberger hatte diesen Zugang beim Vatikan und bei italienischen Abgeordneten. Das war der Sinn von Erzbergers Missionen. Den Kriegseintritt Italiens verhindern konnte Erzberger letztlich nicht, da Wien nicht mitspielte. Der Vatikan allerdings blieb bis Kriegsende neutral. Die Mission, Rumäniens Kriegseintritt gegen die Mittelmächte zu verhindern, scheiterte ebenfalls an der starren Haltung Wiens.

Wir wissen heute, dass der Widerstand Erzbergers gegen den unbeschränkten U-Boot-Krieg richtig war. Als einer der bestinformierten Abgeordneten wusste er, wie Walter Rathenau, dass der unbeschränkte U-Boot-Krieg England nicht in die Knie würde zwingen können und lediglich zum Kriegseintritt der USA gegen Deutschland führen würde. Was dann auch geschah, mit den bekannten Folgen.

Im Frühjahr 1917 setzte sich Erzberger erfolgreich bei Reichskanzler Bethmann-Hollweg dafür ein, dass Lenin und andere russische Revolutionäre aus der Schweiz über Deutschland nach Russland ausreisen konnten. Ein Vorgang von welthistorischer Bedeutung - was Erzberger damals freilich noch nicht ahnen konnte. Im Auftrag von Kanzler Bethmann-Hollweg sondierte und verhandelte er mit dem russischen Politiker Kolyschko über einen separaten Waffenstillstand. Der Versuch wurde von Ludendorff torpediert.

Wir wissen heute, dass der Krieg im Sommer 1917 von Deutschland militärisch nicht mehr zu gewinnen war, obwohl die Oberste Heeresleitung und in ihrem Gefolge die Regierung das Gegenteil behaupteten. Das Kräfteverhältnis an den Fronten war zu diesem Zeitpunkt schon 4:1 zuungunsten Deutschlands und würde mit dem Kriegseintritt der USA im Folgejahr 6:1 betragen. Die ökonomischen Potentiale waren ebenfalls völlig ungleichgewichtig zugunsten der Entente verteilt. Für Erzberger kam es infolgedessen darauf an, rechtzeitig einen Verständigungsfrieden herbeizuführen. Da Oberste Heeresleitung und Regierung sich weigerten, diese Realitäten anzuerkennen, oder, wo sie die Realitäten  kannten, die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, blieb nur der Reichstag.

Erzberger ergriff die Initiative, suchte und schmiedete eine Mehrheit mit Sozialdemokraten, Linksliberalen und Zentrum für die Friedensresolution, die am 19. Juli 1917 angenommen wurde. Das Zentrum hatte unter dem Druck der Kriegslage und Erzbergers Einfluss die Seiten gewechselt und die Sozialdemokraten erstmals in die Verantwortung gebracht. Auf die völlig unvorbereitete deutsche öffentliche Meinung - es herrschte Kriegszensur - wirkte die Friedensresolution wie ein Schlag ins Gesicht, eine öffentliche Desavouierung der eigenen Kriegshoffnungen, für die schon so viele Opfer gebracht worden waren.

Durchsetzen konnte die neue Reichstagsmehrheit die Resolution noch nicht. Die Parlamentarisierung war noch nicht Realität. Die Reichsregierung war im Kaiserreich nicht von Parlamentsmehrheiten abhängig, sondern wurde vom Kaiser ernannt. Oberste Heeresleitung, die Rechtsparteien  und  Regierung ergriffen sofort die Gelegenheit, die neue Reichtagsmehrheit mit der Behauptung anzugreifen, sie sei dem tapfer kämpfenden, siegreichen deutschen Heer in den Rücken gefallen. Sehr zu Unrecht, wie wir heute wissen. Die der Regierung vom Parlament zugespielte Möglichkeit eines Friedensschlusses wurde nicht genutzt bzw. nicht energisch genug verfolgt. Die politische Chance eines rechtzeitigen Friedenschlusses wurde vertan.

Mit seiner Unterschrift unter den Waffenstillstand vom 11. November 1919 in Compiègne/Frankreich hat Erzberger der Weimarer Republik eine schwere Hypothek aufgebürdet. So die immer wieder gehörte Kritik. Erzberger hatte freilich vor der Unterschrift die ausdrückliche Zustimmung Hindenburgs und der Obersten Heeresleitung eingeholt. Trotzdem hat ihn die Rechte dafür verflucht und die sog. Dolchstoßlegende in die Welt gesetzt. Die Weimarer Parteien Zentrum, SPD und Linksliberale haben Erzberger heftig  kritisiert, dass er diesen Akt nicht jenen überließ, die für die verzweifelte Kriegslage verantwortlich waren:  Hindenburg,  Ludendorff und der Obersten Heeresleitung. So war die junge Republik von Beginn an mit dem Makel der Niederlage behaftet. Immer wieder wird das Beispiel Frankreichs nach der Niederlage 1870/1871 angeführt, als Gambettta, der seinerzeit führende französische Politiker der jungen Republik es nach dem Sturz Napoleons III   sorgfältig vermied, die Verhandlungen, die die Niederlage besiegelten, selbst zu führen oder gar die Dokumente eigenhändig zu unterschreiben. Das überließ er den Militärs. In der Tat war es bis dahin üblich, dass Verhandlungen über einen Waffenstillstand von Militärs geführt und abgeschlossen wurden.

Es ist viel spekuliert worden, warum Erzberger diese Aufgabe übernahm. War es Geltungsbedürfnis, wie seine Feinde behaupteten? Oder war es Verantwortungsgefühl? Die Quellen geben keine klare Auskunft. Man kann Erzberger nur aus seiner Zeit verstehen. Vieles blieb damals auch geheim, um die deutsche Verhandlungsposition nicht zu schwächen. Eine andere Erklärung ist aus heutiger Sicht  plausibler: Erzberger war der einzige deutsche Politiker mit  namhafter außenpolitischer Erfahrung, der zudem hoffen durfte, wegen seiner Initiative für die Friedensresolution von den Alliierten gehört zu werden, ja ihnen Konzessionen abzuringen. Keiner konnte sich als deutscher Politiker glaubwürdiger auf die 14 Punkte des US-Präsidenten Wilson berufen als er. Durch seine Propaganda- und  Nachrichtentätigkeit war er immer im Kontakt mit der Meinungsbildung und Entscheidungsabläufen im Ausland geblieben. Waffenstillstand bedeutete ja auch noch nicht Friedensschluss. Dort würden die wahren Entscheidungen fallen. In den Waffenstillstandsverhandlungen konnte ausgelotet werden, was bei den Friedensverhandlungen evtl. möglich sein würde.

Die These lautet: Erzberger wollte sich auf  die Rolle als Verhandlungsführer bei den Friedensverhandlungen vorbereiten,  Wissen, auch Herrschaftswissen ansammeln, über das dann nur er verfügen würde. Er sah sich als führenden deutschen Außenpolitiker, möglicherweise unter günstigen Umständen als eine Art deutscher Talleyrand. (Talleyrand hatte 1815 auf dem Wiener Kongress als Verhandlungsführer des geschlagenen Frankreichs einen Frieden Status quo ante  erreicht.)  Warum sonst sollte Erzberger in den Wintermonaten 1918 eine Denkschrift zur “Reform des Auswärtigen Amtes” verfassen? Seine im Spätsommer 1918 verfasste Schrift  “Der Völkerbund. Der Weg zum Weltfrieden“, Berlin 1918 zeugt nicht nur von Erzbergers außerordentlichem Gespür für kommende Fragen, sondern empfahl ihn auch den Alliierten, insbes. den USA als Verhandlungspartner. Hatte doch US-Präsident Wilson im letzten  seiner 14 Punkte zum Friedensprogramm vom 8. Jan.1918 die Errichtung eines Völkerbundes gefordert. In heutiger Sprache, die auf ihn passt, hatte Erzberger instinktsicher, früh und erfolgreich das “Thema besetzt“. Offensichtlich sahen das andere in den damaligen Führungszirkeln des Reiches ebenso, sonst hätte man ihm die Position als Verhandlungsführer in Compiègne wohl kaum anvertraut.

Es kam anders, wie man im Nachhinein weiß. Die Alliierten hörten niemand an und ließen keinerlei Argumente gelten. Der Waffenstillstand, dem - um das zu wiederholen, die Oberste Heeresleitung zustimmte, um dann den Anschein zu erwecken, als hätte sie mit der Sache nichts zu tun -  hatte aus der Sicht der Alliierten vor allem den Zweck, ein deutsches Aufbegehren, einen erneuten Widerstand nach Bekanntwerden der  Friedensbedingungen zu verhindern. Das wurde mit dem Waffenstillstand ohne Kompromisse durchgesetzt. Wieder hatte man das Beispiel Frankreich vor Augen, wo nach der Niederlage Napoleons III 1870 die junge französische Republik den militärischen Widerstand neu organisierte und kraftvoll wieder aufnahm. Deutschland hingegen wurde nach 1918 völlig wehrlos gemacht.

Diese Vorgeschichte muss kennen, wer die Rolle Erzbergers als treibende Kraft für die Annahme der Versailler Friedensbedingungen verstehen will. Erzberger hatte in Compiègne schmerzlich erfahren müssen, dass die Entente-Mächte keinerlei echte Verhandlungen zuließen. Der Waffenstillstand war ein einseitiges Diktat. Beim Versailler Frieden war es genauso. Die deutsche Delegation, die zu Verhandlungen erst gar nicht zugelassen wurde, wurde außerhalb von Versailles festgehalten und festgesetzt - hinter Stacheldraht! Erzberger hatte in Compiègne eine entscheidende Erfahrung  mit der Entente gemacht. Die Entente war nicht bereit, Deutschland einen maßvollen Frieden zu gewähren, wie etwa Frankreich 1815.

Ein maßvoller Frieden wäre theoretisch die eine Möglichkeit gewesen. Aber Deutschland, das im Krieg  4 Jahre lang gegen den Rest Europas standgehalten hatte und erst durch das Eintreten der außereuropäischen Macht USA niedergerungen werden konnte,  war schlicht zu mächtig. Das europäische Gleichgewicht war nachhaltig gestört. Dieses geballte Potential mitten in Europa musste aus Sicht der Entente-Mächte (und Russlands bis 1917) irgendwie entschärft, der Kraftklotz gebändigt  werden. Ein Verständigungsfrieden hätte aus Sicht der Entente tendenziell eine deutsche Hegemonie in Europa bedeutet. Das wollten weder Frankreich noch England - unter gar keinen Umständen.

Die andere Möglichkeit war, Deutschland so zu schwächen, dass es auf absehbare Zeit kein entscheidender Machtfaktor mehr werden konnte. Das konnte am besten durch eine Teilung des Deutschen Reiches erreicht werden, das ja erst knapp ein halbes Jahrhundert zuvor geschaffen worden war. Die Teilung war die politische Logik, eigentlich Notwendigkeit, wenn ein Verständigungsfrieden nicht möglich war. Das hat mit politischer Moral, angeblicher Bösartigkeit der Deutschen,  Kriegslüsternheit  und Militarismus, deutscher Kriegsschuld etc überhaupt nichts zu tun. Wie wir heute wissen, gab es solche Teilungspläne bei den Entente-Mächten. (Verwirklicht wurden sie dann nach dem 2.Weltkrieg mit dem insgeheimen Einverständnis der europäischen Mächte. Man denke nur an den Widerstand von Frau Thatcher und anderer gegen die Wiedervereinigung 1990!)

Erzberger muss die unversöhnliche Entschlossenheit der Entente-Mächte in Compiègne erkannt haben. Aus reinem Machtkalkül war Erzberger, als gewieftem Politiker, wie wir ihn kennen gelernt haben,  klar, dass die deutsche Teilung in der Luft lag. Ein erneutes deutsches Aufbegehren, vor allem  militärischer Widerstand hätte den Einmarsch der Alliierten in Deutschland und die Teilung zur Folge. Er wusste auch, dass Deutschland 1919 militärisch vollkommen wehrlos war. Besser war also allemal, den Versailler Frieden, so schmachvoll er in den Augen seiner Landsleute auch war, zunächst einmal hinzunehmen.

Der Versailler Frieden, in der Tat ein Diktat gegenüber Deutschland, war in sich ein unschlüssiger Zwitter. Deutschland wurde einerseits nicht als Friedens-Partner anerkannt. Es wurde andererseits  geschwächt, aber nicht entscheidend. Die Entente-Mächte waren letztlich uneinig, die USA zogen sich von der europäischen Bühne bald wieder zurück und im Osten fehlte der Entente der Partner Russland. Eine schlüssige Lösung zur Wiederherstellung des Friedens in Europa, sprich: “europäischen Gleichgewichts” im  Sinne der Entente wurde nicht gefunden. Außerdem wurde Deutschland durch völlig unnütze Klauseln zusätzlich gedemütigt, was nur massivste Ressentiments auslösen konnte.

Erzberger bestens informiert wie stets - und wie nur wenige andere in Deutschland - hat dies gesehen. Er sah die Reichseinheit bedroht. Die Erhaltung der Reichseinheit war Erzbergers immer wiederholtes und durchschlagendes Argument. Es ist  Erzbergers Einsatz zuzuschreiben, dass Deutschland deshalb dem Versailler Frieden letztlich zustimmte.  Denn Versailles ließ - so Erzberger - den Wiederaufstieg Deutschlands durchaus zu. Folgerichtig, entschlossen und erfolgreich widmete sich Erzberger, wie wir oben gesehen haben, schon 1919 der finanziellen Gesundung des Reiches und der Herstellung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland. Bereits 1921/1922 übertraf im übrigen die deutsche Industrieproduktion schon die von vor 1914.

Die gewaltigen Ressentiments, die sich in Deutschland nach Waffenstillstand und  Versailler Frieden in Unkenntnis und unter Verkennung der wahren Lage und Verantwortlichkeiten aufbauten, hat Erzberger zwar gesehen. Ihnen wirkungsvoll entgegen zu treten, war ihm nicht mehr vergönnt. Er wurde schon am 26. August 1921  Opfer dieser Ressentiments.

Es ist die Tragik der Weimarer Republik, dass sie ihre großen Politiker, Matthias Erzberger und Walter Rathenau durch Mord, Friedrich Ebert und Gustav Stresemann durch allzu frühen Tod verlor. Der gewaltigen Ressentiments, die Versailles auslöste, bemächtigten sich andere, die Deutschland in einen neuen Krieg führten, der die  Europas Vorherrschaft in der Welt beendete.

Ehrung Erzbergers

Es ist Zeit, allerhöchste Zeit, Erzberger die Ehrung zu kommen zu lassen, die ihm gebührt. Er ist einer der wenigen, ganz großen deutschen Politiker, deren Andenken wir unbeirrt hochhalten müssen. Er gibt uns Orientierung und ein Wissen um Verantwortung , das noch weit über unsere eigene Lebenszeit fortwirken möge.

Nachtrag

Mein Interesse an Matthias Erzberger entstand als Jugendlicher in meiner Heimatstadt Singen/Hohentwiel. Dort haben wir an hervorgehobener Stelle mitten in der Stadt eine Erzbergerstraße. Sie läuft parallel zur August-Ruf-Straße, benannt nach dem Singener katholischen Stadtpfarrer, der von den Nazis ins KZ gesperrt und ermordet wurde, und der Scheffelstraße, die an den für unsere Region wichtigen Dichter Victor von Scheffel erinnert. Aus meiner Schulzeit erinnere ich, wie unser Oberbürgermeister Theopond Diez  vom Attentat auf seinen Vater, den Zentrumspolitiker und Reichstagsabgeordneten aus Radolfzell, Carl Diez, berichtete. Carl Diez begleitete Erzberger auf dessen  letztem Spaziergang am 26. August 1921 in Griesbach im Schwarzwald und überlebte das Attentat schwer verwundet, während Erzberger tödlich getroffen wurde.

In Biberach wurde vor einigen Jahren vergeblich ein erster Anlauf gemacht, die zentral gelegene Hindenburgstrasse in Erzbergerstrasse umzubenennen.

Ergänzende Literatur:

Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Berlin - Frankfurt/M - Wien, 1962  (Zitate aus Ullstein-Ausgabe 1976)

Theodor Eschenburg, Matthias Erzberger. Der große Mann des Parlamentarismus und der Finanzreform, München, 1973

Christoph E. Palmer und Thomas Schnabel (Hrsg.),Matthias Erzberger 1875-1921, Patriot und Visionär, Stuttgart und Leipzig, 2007

GUNTRAM VON SCHENCK,  November 2008

 

 


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