6. Kapitel


1964 - 1968: Uni Bonn - Studentenrevolte


  1964 kehrte ich nach Deutschland zurück. Bald fand ich einen Doktorvater, den früheren Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris, Eugen Ewig, Professor zu Bonn. Mit "Reims in merowingischer Zeit" hatte ich ein Doktorthema mit deutsch-französischem Hintergrund erhalten. Gleichzeitig begann ich mit dem Zweitstudium der Rechtswissenschaft, ebenfalls in Bonn. Es folgten schleppende, ermüdende Jahre, in denen sich äußerlich scheinbar nichts tat. Ich recherchierte für meine Promotion und legte umfangreiche Zettelkästen an, die Baustein für Baustein die Ergebnisse meiner wissenschaftlichen Tätigkeit zusammenfassten. Die Doktoranden-Kolloquien bei Ewig und andere wissenschaftliche Angebote der Bonner Alma Mater verführten auch nicht gerade zu Geistesflügen.

  Vieles empfand ich als überflüssige Faktenhuberei (z. B. Prof. Braubach) oder konservativ-reaktionäres Gesülze (z. B. Prof. Hubatsch). Ich erinnere mich an keine einzige glanzvolle Vorlesung der Bonner Historiker. Es dominierten akademische Schattengewächse. Vielleicht hätte der Politologe Karl Dietrich Bracher eine Ausnahme sein können, was er schrieb war gut, aber er las so fürchterlich schlecht, dass man beim besten Willen nicht zuhören konnte. Vorlesungen mied ich deshalb und besuchte nur noch die absolut notwendigen Übungen. Gleichzeitig machte ich die Scheine des Jurastudiums: Strafrecht, Bürgerliches und Öffentliches Recht. Es war die Mühsal der Ebene.

  Das deutsche Studentenleben lag mir nicht sonderlich. Einer Studentenverbindung trat ich nicht bei, Trinkexzesse mied ich, was nicht heißen soll, dass ich nicht abends ab und wann mit Freunden die Bonner Kneipen aufsuchte und ein paar Gläser Bier trank. Wir wohnten zu mehreren Studenten in einer geräumigen Altbauwohnung in der Königstrasse in unmittelbarer Nähe eines Lokals, genannt die "Kerze", das bis 4 Uhr morgens aufhatte. Der Verlockung widerstanden wir nicht immer. Anschließend ging es dann am frühen Morgen einige Male noch nach Bad Breisig ins Thermalbad. Die Umgebung von Bonn, insbesondere die Eifel, durchstreifte ich in langen Wanderungen mit einem Freund aus Costa Rica, der in Bonn Medizin studierte.

  Politisiert hatte mich die Auseinandersetzung um die Aberkennung der Ehrendoktorwürde von Thomas Mann durch die Universität Bonn während der Nazi-Zeit 1936. Die Universität wurde von Wellen der Empörung erfasst. Sie waren ein Vorläufer dessen, was noch kommen sollte. Aber noch dominierte an der Bonner Uni der Geist der ausgehenden Adenauerzeit, es war, als würden die 1950er Jahre niemals enden. Adenauer war in Bonn natürlich immer präsent, auch wenn er seit 1963 nicht mehr Bundeskanzler war, besonders eindrücklich bei seiner Grablegung 1967. Er stand für mich für die falschen Phrasen, das Stickige, eine bleierne, schier unerträgliche Last der Gegenwart.

  Für mich und einige andere war Adenauer in diesen Jahren schlichtweg der "Kanzler der Alliierten", wie ihn Kurt Schumacher, der verstorbene Vorsitzende der SPD genannt hatte. Er stand für Westbindung der Bundesrepublik um jeden Preis, wozu auch der Preis der Fortsetzung der deutschen Teilung gehörte. Er war die Inkarnation all dessen, was ich bei meiner Rückkehr nach Deutschland ablehnte. Die Deutschlandpolitik, die Weigerung Kontakte zum Osten aufzunehmen (es galt die sogenannte Hallstein-Doktrin), die absolute außenpolitische Unbeweglichkeit war zum Verzweifeln. Den Umgang mit der Nation und ihren Interessen und Werten hatte ich im Frankreich de Gaulles in ganz anderer Weise kennen gelernt. De Gaulle hatte Frankreich mit guten Gründen aus dem Westbündnis der NATO herausgelöst.

Studentenrevolte

  Im Nachgang zur Diskussion um Thomas Mann trat ich in die SPD ein. Es musste sich etwas ändern. Es war ein Aufbegehren gegen den konservativen Zeitgeist, den Mief der Restauration. Schon der intellektuelle Absturz von Paris nach Bonn hatte mir schwer zu schaffen gemacht. Aber die Ideenlosigkeit und Borniertheit, mit der man in der Bonner Politik operierte, war schlicht unfassbar. Für Ludwig Erhard empfand ich die gleiche Verachtung wie de Gaulle, wie übrigens auch Adenauer; ich hatte sie schon aus Frankreich mitgebracht. Die Bezeichnung `Provinzialismus´ ist ein gnädiger Euphemismus für das, was ich in Bonn erlebte. Der ehemalige Nazi Kiesinger war als Kanzler eine Zumutung, die Ohrfeige von Beate Klarsfeld hätte auch die meine sein können. Einer der wenigen Lichtblicke war der SPD-Politiker Fritz Erler, der aber leider bald krank wurde und starb.

  Man kann sich heute in die Enge des Denkens in der Bundesrepublik während dem Kalten Krieg kaum mehr zurückversetzen, man glaubt es gar nicht: Bert Brecht, der große Dramatiker, der in Paris auf den größten Bühnen Triumpfe gefeiert hatte, wurde z. B. auf westdeutschen Bühnen nicht gespielt, er war ja einer von `Drüben´. An der Sorbonne in Paris war z. B. das Geographische Institut Anfang der 1960er Jahre voll und ganz in der Hand kommunistischer, moskautreuer Dozenten gewesen; Sartre hat `maoistische´ Flugblätter verteilt. In Frankreich hat das auch einigen nicht gepasst, aber es wurde toleriert, es gehörte dazu. Staatspräsident de Gaulle: c´est aussi la France! (auch das ist Frankreich!). Übte man in Westdeutschland Kritik am Bestehenden, kam schnell die Aufforderung: Geh doch nach `drüben´, wenn es dir hier nicht passt. Die Intoleranz und Unfreiheit des Denkens waren unglaublich.

  Das galt auch für die Bonner Universität, die sich in ihrem Selbstverständnis dicht an der Regierungszentrale wähnte bzw. deren Nähe suchte. Das war der Bonner Alma mater nicht in die Wiege gelegt worden. Als Humboldt´sche Reformuniversität 1818 von König Friedrich Wilhelm III gegründet, sollte sie im katholischen Rheinland den preußischen Geist der Aufklärung ausstrahlen. Aufklärung und Idealismus wiesen an der Uni Bonn Anfang des 19. Jahrhunderts den Weg in eine neue Zeit. Einer der illustren und berühmten Studenten der Bonn war u. a. Karl Marx, der 1835 hier studiert hatte. Anderthalb Jahrhunderte später, 1966/1967, war vom Geist des Aufbruchs und der Zukunftsorientierung in Bonn nichts mehr zu spüren. Das Universitätsleben bröselte irgendwie dahin.

  Ich verbrachte den größten Teil meiner Zeit im Institut für Landesgeschichte in Bonn mit der Arbeit an meiner Doktorarbeit: Frühmittelalterliches Latein, Heiligengeschichten (die übrigens erstaunlich viele historische Informationen hergeben, wenn man sie daraufhin abklopfte), Bischofstestamente , alte Urkundenbücher usw. füllten meine Tage aus. Mit dem noch vorherrschenden Leben in den studentischen Burschenschaften, Verbindungen und Korporationen konnte ich nichts anfangen, dem wollte ich mich nicht anschließen. Ich gierte nach intellektueller Lebendigkeit, nicht nach Biertrinken bis zur Besinnungslosigkeit. Von den kleinen Grüppchen politischer Studentenvereinigungen fühlte ich mich eher angesprochen, es gab dort eine gewisse geistige Regsamkeit.

  Im SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, der von der SPD als linksradikal verstoßen worden war, tummelten sich in Bonn schon damals einige eher "Moskau-affine" Genossen. Als SPD-Mitglied trat ich nach anfänglichem Zögern dem SHB, dem Sozialdemokatischen Hochschulbund bei, der anstelle des SDS nunmehr als studentische SPD-Parteiorganisation fungierte. Große Taten hatten wir nicht zu vermelden: Kandidaturen für das Studentenparlament, hie und da ein Flugblatt. Aber wir lasen und diskutierten, u. a. die Frühschriften von Karl Marx, "Das Monopolkapital" (Mopoka) von Baran-Sweezy oder die Phänomenologie Hegels. Große Stücke hielten wir auf die Arbeiterklasse als Träger der Revolution (revolutionäres Subjekt) und setzten uns bewusst und konsequent von der "Frankfurter Schule" und den von ihr beeinflussten Studentengruppen ab. Adorno, Marcuse und wie sie alle hießen, galten uns in Bonn nicht viel, wir argumentierten dagegen und lehnten sie politisch ab.

  Die meisten Mitglieder von SDS und SHB sowie deren weiteres Umfeld kamen aus den Geisteswissenschaften: Politologen, Sozialwissenschaftler, Germanisten und Historiker. Gerade letztere waren relativ zahlreich vertreten und besonders aktiv. Es gab auch den einen oder anderen Naturwissenschaftler, keine Mediziner, ganz selten mal ein Jurist. Wir störten uns u. a. an der Alleinherrschaft der Ordinarien, an der fehlenden Mitsprache der Studenten und des Mittelbaus (Assistenten), an der Drittmittelforschung und dem damals nicht existierenden Praxisbezug des Studiums. Zu leiden hatten wir alle unter dem mangelhaften um nicht zu sagen: nicht vorhandenen Engagement des Lehrkörpers für die Lehre. Bonn verwandelte sich unter unseren Augen in den 1960er Jahren in eine Massenuniversität und wir hatten den Eindruck, dass die Professoren diese Entwicklung nicht nur ablehnten sondern die Lehre als lästiges Übel betrachteten, dem sie sich - wenn irgend möglich - entzogen. Von Betreuung der Studenten konnte keine Rede sein.

  Besonders ausgeprägt war dieses Phänomen in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Noch eklatanter war es bei den Juristen: nur der Mittelbau und Lehrbeauftragte kümmerten sich um die unumgänglichen Übungen zum Erwerb der Scheine etc. Die Vorlesungen waren zum größten Teil ungenießbar - als hätten die Professoren es darauf angelegt, die Studenten zu vergraulen, so dass sie möglichst ungestört aus ihren Lehrbüchern vorlesen konnten. Zulauf hatten nur die juristischen Repetitoren, die die Studenten mit Witz und Praxisbeispielen zum Stoff anlockten; manche Studenten kamen nur eines bestimmten Repetitors wegen nach Bonn. Meinen ersten Redeerfolg hatte ich denn auch auf einer Uni-Vollversammlung im Spätherbst 1967 als ich die "Abwählbarkeit studentenfeindlicher Professoren" forderte. Minutenlang applaudierte das Publikum und trampelte mit den Füssen. Prof. Flume, ein Jurist, der mit auf dem Podium saß, warf zwar ein, dass das mit dem Beamtenrecht unvereinbar sei, womit er sicher recht hatte. Aber eine massive Stimmung gegen solche schnöselige Rechthaberei hatte sich in den vergangenen Jahren an der Universität aufgebaut, er hatte keine Chance...

  Aber ich greife vor. Im Hintergrund schwelten noch ganz andere Probleme, die weit über den Universitätsbetrieb hinausgingen. Da war die Notstandgesetzgebung, mit der sich die Bundesrepublik angeblich die Souveränität zurückholen wollte, die sie bei der Gründung 1949 nicht erhalten hatte - und in Wahrheit erst mit der Wiedervereinigung 1990 erlangte. Da waren die Beziehungen zu Persien/Iran mit dem anstehenden Besuch von Schah Reza Pachlavi. Und da war vor allem der Krieg in Vietnam. Es war eine latente Unruhe, die mit den Nachrichten von ersten studentischen Unruhen an der Freien Universität Berlin (FU) und Frankfurt anwuchs. Eine Funke würde genügen, um eine Massenbewegung zu entfachen. Die Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 während einer Anti-Schah Demonstration in Berlin war jedenfalls für Bonn die Initialzündung. Erstmals zogen tausende Studenten in Protest und Trauer durch die Innenstadt.

  Wir Studenten vom SHB, SDS und der HSU (Humanistische Studentenunion) taten alles, um uns an die Spitze der Proteststimmung zu setzen. Wir organisierten sogenannte "sit-ins", beriefen Versammlungen auf Seminar- und Fakultätsebene oder Vollversammlungen ein, organisierten Vorträge und Diskussionen oder wurden von anderen, auch Verbindungen, dazu eingeladen. Es war wie im Rausch: wir planten, griffen an, stürmten in die Versammlungen. Nachts entwarfen wir Flugblätter, druckten und verteilten sie am Tag. Der Wahlkampf für das nächste Studentenparlament gab uns sogar eine offizielle Bühne, so dass wir zu Beginn von Vorlesungen in knapp 10 Minuten oder mehr unsere Programme erläutern, eventuell zündende Ideen erproben und deren Wiederhall nachspüren konnten. Es war ein gewaltiges Durchatmen, ein erhoffter und erahnter Durchbruch, ein Ausbruch aus der geistigen, sterilen und erstickenden Enge des Bonner Universitätslebens.

  Wir waren kein Einzelfall. Geholfen haben uns in Bonn natürlich die Ereignisse an den anderen Universitäten. Auch wir hatten Rudi Dutschke zu Besuch, machten aber nicht zu viel Aufhebens davon, da wir andere politische Meinungen vertraten. Wir hielten die Studenten und/oder andere gesellschaftliche Randgruppen nicht für das "revolutionäre Subjekt" der Gegenwart und Zukunft, sondern hielten an der Vorstellung von Marx fest, dass die Arbeiterklasse berufen sei, die Umwälzung der Verhältnisse zu bewerkstelligen. Wenn ich "wir" sage, meine ich den SHB und den SDS in Bonn. Vor allem im SDS dominierten "orthodoxe" Vorstellungen Moskauer Provenienz, im SHB weniger, ich war oft das einzige sozialdemokratische Gegengewicht (was immer wir damals unter sozialdemokratisch verstanden, immerhin war ich SPD-Mitglied). Aber diese Feinheiten, so bedeutsam sie waren und so bedeutsam sie werden sollten, spielten 1967 noch kaum eine Rolle.

  Es war wohl die politisch-theoretische Orientierung und Radikalität, die es uns in Bonn schwer machte, in gleicher Weise wie anderswo die studentischen Massen zu mobilisieren. Die Kritik an einer Vorlesung über die Russische Revolution von Prof. Jablonowski zeigt das beispielhaft. Prof. Jablonowski war leider sehr schwach und die Substanz dessen, was er vortrug, mehr als dünn. Aber auch die Argumente der Vorlesungskritik hielten sich zu eng an die offizielle Moskauer Lesart. Sie konnten deshalb nicht wirklich überzeugen und Breitenwirkung entfalten. Prof. Jablonowski brach dann die Vorlesung nach wenigen Wochen ab. Am meisten genützt haben uns wie auch an den anderen Universitäten Polizeieinsätze. Nach jeder Polizeiaktion konnten wir auf Zulauf zählen.

  Das galt u. a. auch für die Rektoratsbesetzung an der Regina-Pacis- Pforte im Februar 1968, die von der Polizei geräumt wurde. Letztere ist mir in besonderer Erinnerung, da sie mir ein Strafverfahren wegen "Aufruhr" einbrachte. Es verlief sich nach mehr als anderthalb Jahren im Sande, da ich zum Sommersemester 1968 an die Uni Tübingen wechselte und das Strafverfahren an meiner Heimatadresse in Singen (Hohentwiel) anhängig gemacht worden war. Noch heute halte ich das Originaldokument in Ehren. Es klingt einfach zu schön: "Ermittlungsverfahren `wg. Aufruhr u. a.´ gegen Guntram Freiherr Schenck zu Schweinsberg" - wie im Mittelalter! (Strafe nicht unter 6 Monaten Gefängnis). Rückblickend frage ich mich, wieweit ich sonst noch persönlich involviert war? Bei allem Mitmachen, wahrte ich doch eine gewisse Distanz. Zu den orthodoxen, DKP-nahen Aktivisten hatte ich zwar ein kameradschaftliches aber nie sonderlich freundschaftliches Verhältnis. Sie brauchten mich als eine Art Aushängeschild, um zu zeigen, dass auch Sozialdemokraten mitmachten.

  Bei Demonstrationen marschierte ich immer etwas am Rande oder zwei bis drei Meter nebendran mit, wie z. B. bei der großen Vietnam-Demonstration Anfang 1968 in Berlin. Zu dieser großen Anti-Vietnamkundgebung waren wir nach Berlin gefahren und erhielten von dortigen Studenten Holzlatten, um uns ggfs. gegen die Polizei zur Wehr setzen zu können - was nicht nötig wurde. Ich mied die großen Haufen, an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei beteiligte ich mich nicht. Sie waren in Bonn und später auch in Tübingen weder üblich noch nötig. Nur einmal gab es in Bonn ein Getümmel, als die Polizei den Zugang zum Rektorat räumte (eine Polizeimütze wurde dabei erbeutet): es brachte mir das o. g. Verfahren "wg. Aufruhr" ein.
  
  Wie weit das Thema Gewalt andernorts schon eskaliert war, wurde mir auf einem Treffen des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) 1969 in Göttingen deutlich, als ein SDS-Führungsgenosse immer wieder mit Emphase in den Saal rief: "Zur Knarre greifen" - oder auch einzelne Teilnehmer darauf ansprach. Ende der 1980er Jahre ist er mir, nun als "Grüner", wieder im Bonner Bundeshaus begegnet. Ob er sich an seine Sprüche von damals noch erinnerte?

  Zum Studentenparlament Bonn habe ich als "Linksaristokrat" kandidiert (ein bisschen Happening war immer dabei) und wurde gewählt. Ich hatte häufig den Eindruck, dass ich die Stimmung unter den Studenten besser erfasste als die meisten "orthodoxen" Genossen vom Bonner SDS, die gleichzeitig indoktrinieren wollten. Im Studentenparlament überraschte mich, wie schnell man lernt, mit Geschäftsordnungstricks zu arbeiten, Mehrheiten zu bilden, Gegner an die Wand zu drücken, Ressourcen zu nutzen. Es war eine einmalige Lehrzeit. Aktiv waren dort u. a. auch Ulrich Wickert, der nachmalige ARD-Moderator und Bestseller-Autor, und Hannes Heer, der in den 1990er Jahren für die wissenschaftliche Gesamtleitung der umstrittenen Wehrmachtausstellung (1995-1999) verantwortlich war.

   Vietnam war das große Thema, das die Studentenbewegung in Bonn wie andernorts begleitete. Der Krieg der USA gegen den Vietcong, der Krieg der Weltmacht gegen Partisanen, hinter denen nichts als eines der ärmsten Entwicklungsländer stand, David gegen Goliath. Das erregte die Gemüter nicht nur in Deutschland sondern vor allem in den USA selbst. Die abscheulichen Militäraktionen des US-Militärs (u. a. Entlaubung des Urwalds mit Agent Orange = Chemiebomben) führten immer wieder zu öffentlichen Aufschreien. Die Bundesregierung enthielt sich der Kritik, wir Studenten nicht. So stand ich denn mehrere Tage auf dem Bonner Münsterplatz, um mit der Spendenbüchse für den Vietcong Geld zu sammeln.

  Der Aufbruch in der Studentenrevolte war für die meisten von uns ein großer, gewaltiger Befreiungsschlag, ein tiefes Luftschöpfen. Das gilt auch für mich. Vom engen, mit Büchern überladenen Schreibtisch im Bonner Institut für Landesgeschichte, an den ich jahrelang quasi gefesselt war, ging es hinaus in die universitäts-öffentlichen Räume: nicht um geduldig Lehrmeinungen anderer zu hören oder zu ertragen, sondern um dort selbst Meinungen zu vertreten und durchzufechten. Nachts debattierten wir in Kneipen (u. a. Club 46) weiter, zum Teil in merkwürdiger Gesellschaft - heute würde ich mich eher nicht dazu setzen. Schon in Paris hatte ich bemerkt, dass es mir lag, öffentlich aufzutreten, Vorträge und Reden zu halten. Das konnte ich nun ausleben - und mit Genuss. Die freie Rede war mein Element. Das öffentliche Reden lag mir mehr als das Gespräch und immer am besten, wenn ich provozierte, was ich reichlich tat.

  Erwähnt hatte ich schon, dass relativ viele Historiker von Anfang an bei der Studentenrevolte mitmachten. Das Historische Seminar wurde zu einer Brutstätte des Studentenprotests in Bonn. Das lag sicher nicht an den fortschrittlichen Lehren der Professoren, sondern am Aufbegehren gegen den Ungeist der Faktenhuber und ideologischen Doppelgänger des konservativ-reaktionären Mainstreams bundesdeutscher Politik der damaligen Zeit. Nicht zufällig galt die erste Bonner Vorlesungskritik dem bereits erwähnten Prof. Jablonowski zur Russischen Revolution. Was haben diese Dozenten aus der deutschen Geschichtswissenschaft gemacht? Nichts als eine sterile, unleserliche Anhäufung von unbrauchbarem Wissen, mehr oder weniger akkurat zusammengeschrieben. Was für ein Abfall gegen frühere, große Zeiten deutscher Geschichtswissenschaft und vor allem gegenüber der Entwicklung im angelsächsischen und französischen Sprachraum. Deshalb unser - und mein - Angriff auf das Historische Seminar Bonn als "Hochburg der Reaktion".

  Auf eine Herausforderung folgt meist eine Reaktion. Zwar brodelte es auch im akademischen Mittelbau, aber die meisten trauten sich nicht. Später wurde bekannt, dass sich der eine und/oder die andere doch durchaus kritisch zur "herrschenden" Meinung im Seminar gestellt hatten, zum Teil mit nachteiligen Konsequenzen. Die Professorenschaft schloss sich eng zusammen und bildete den Nährboden für das, was sich danach im "Bund Freiheit der Wissenschaft" sammelte. Zwei Bonner Historiker gehörten zu den Gründungsmitgliedern und Scharfmachern des Bundes: Konrad Repgen und Hatto H. Schmitt, letzterer nachmals Dekan und Rektor. Sie sahen in der Studentenrevolte nicht nur die Ankündigung des Verlusts von professoralen Privilegien, sondern eine Art Weltuntergang, dem sie sich entgegenstemmen zu müssen glaubten. Im Studentenjargon jener Tage galten sie rasch als "Politrabauken im Professorentalar".

  Mitte 1980er Jahren gab es einmal ein Treffen von ehemaligen Mitgliedern der Studentenparlamente 1967/1968 in der Bonner Jugendherberge auf dem Venusberg. Es war erschütternd, wie viele durch den sogenannten "Radikalenerlass" an einem normalen beruflichen Fortkommen gehindert worden waren. Einige hatten hohe persönliche Risiken in Kauf genommen, wie die Zwangsexmatrikulation oder Probleme bei der Prüfung. Hannes Heer bekam meiner Erinnerung nach Probleme, ein Referendariat als Lehrer zu beginnen: sein Berufsziel blieb ihm verschlossen. Anders als ich ist er dem historischen Fach treu geblieben und hat die schon erwähnte "Wehrmachtausstellung" in den 1995-1999 Jahren kuratiert. Der Verfassungsschutz hatte spätestens seit 1966 begonnen, über unsere Aktivitäten Akten anzulegen. Es wäre interessant zu wissen, was darin steht. In Großbritannien werden solche Akten sukzessive freigegeben und können dann meist im Internet eingesehen werden.

  Die Studentenrevolte war in ihren Anfängen wie ein "Sturmlauf ins Freie". Was wir noch unausgegoren und nicht ausformuliert in uns trugen, der ganze Frust über diese Gesellschaft, die uns ein enges Korsett überkommener Werte und Verhaltensweisen überstülpen wollte, fand endlich ein Ventil. Wir eroberten neue geistige Räume, die man vor uns verschlossen hatte. Wir eröffneten uns neue Handlungsmöglichkeiten. Wir lernten öffentlich reden, politisch argumentieren und uns durchzusetzen. Wir stellten die Autoritäten in Frage, und siehe da: da war nichts, worauf wahre Autorität sich hätte stützen können. Es herrschte eine euphorische, mitreißende Stimmung, Solidarität war angesagt, Dogmatismus war in der Anfangsphase selten. Es war die Morgenröte einer neuen Zeit, die einen Aufbruch-Mythos von gewaltiger Dynamik freisetzte. Die Polizei war unser bester Helfer: jeder Polizeieinsatz verbreiterte unsere Basis. Bei allem Sendungsbewusstsein wussten wir damals natürlich noch nicht, dass wir für einige Jahrzehnte das politisch-geistige Klima der Bundesrepublik maßgeblich bestimmen würden.

  Und doch begann sich die Studentenbewegung schon 1968 aufzufächern, wurden die Bruchstellen erkennbar, die in den kommenden Jahren zu Spaltungen, Abspaltungen, Zerwürfnissen, Neugründungen führen sollten. Ideologische Positionierungen wurden sichtbar zwischen denen, die zur SPD tendierten oder die Nabelschnur zur Mutterpartei nicht abreißen lassen wollten, den Orthodoxen, die bei Stamokap oder der DKP landeten, den Maoisten, die u. a. für einen gesamtdeutschen Staat eintraten ("Alle ausländischen Truppen raus aus ganz Deutschland!" - ob sich der heutige baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann daran erinnert?), den Trotzkisten, Anarchisten und Spontis und schließlich denjenigen, die sich der RAF um Bader-Meinhof anschlossen. Was ab 1969 ablief, glich einem revolutionären Prozess, der sich beschleunigte und radikalisierte. Die Trennungslinien des kommenden Jahrzehnts wurden bereits im Ansatz erkennbar.

Von hier aus!

  Eine Veranstaltung, über die ich in einschlägigen Publikationen oder Erinnerungen nichts gefunden habe, scheint mir dennoch berichtenswert.

  Das sowjetische Fernsehen plante im Wintersemester 1967/1968 eine Sendung über Karl Marx als Student an der Universität Bonn. Als Teil dieser Sendung sollten Bonner Studenten in den gleichen Räumen, in denen Karl Marx 1835 sein 1. Semester studiert hatte, über Marx und seine historische und aktuelle Bedeutung diskutieren. Studenten des SDS und SHB wurden zu der Diskussion eingeladen.

  Das Hauptgebäude der Universität, ehemals Schloss des Erzbischofs von Köln, war im Krieg durch Bomben zerstört und danach wieder aufgebaut worden. Die Räume des Philosophischen Seminars konnten deshalb nur annäherungsweise die gleichen sein wie zur Zeit von Karl Marx. Was zählt ist die Symbolik. Vielleicht schlummert in irgendwelchen Moskauer Archiven noch eine Kopie der Filmaufnahmen. Es wäre sicher interessant, sie heute anzuschauen, aber der Aufwand, an sie heranzukommen, wäre sicher enorm. Deshalb passe ich und muss mich für die Rekonstruktion der Diskussion auf mein Gedächtnis verlassen.

  Wer das Eingangsstatement hielt, ist mir entfallen. Es beleuchtete die gewaltige, geschichtsmächtige Bedeutung des Werks von Karl Marx: Der "real existierende" Sozialismus oder Kommunismus beherrschte Ende der 1960er Jahre einen großen Teil des eurasischen Kontinents, von der DDR-Grenze an der Elbe über die Sowjetunion bis China. In Vietnam drohte er, die USA zu besiegen. Selbst im Westen gab es mächtige kommunistische Parteien in Frankreich und Italien. Alle beriefen sich auf Karl Marx, der in Trier geboren war und in Bonn sein Studium begonnen hatte. Es war ein euphorisches, selbstbewusstes: "Von hier aus!", das wir zum Ausdruck brachten.

  Die ausdifferenzierte Feinheiten unserer Argumentationen: "junger Marx" gegen den "alten Marx" und umgekehrt sind den anwesenden sowjetischen Journalisten und Kameraleuten sehr wahrscheinlich verborgen geblieben. Vielleicht hofften sie aber auch - insgeheim - auf eine Erneuerung der erstarrten marxistischen Dogmatik in der Sowjetunion und verfolgten die Diskussion im Ursprungsland des Marxismus mit wachem Interesse. Wer weiß? (Unsere Ausführungen mussten für die Sendung ins Russische übersetzt werden - wir hatten also keinerlei Einfluss auf das, was letztlich daraus gemacht würde.)

  Die Diskussion dauerte eine gute Stunde. Für fast alle war es das erste Mal, dass sie gefilmt wurden und im Fernsehen, wenn auch vor fremdem, fernem Publikum in Erscheinung treten sollten. Wie viele von den anwesenden Studenten zu Worte kamen, erinnere ich nicht mehr. Ich selbst konnte einige Ausführungen aus sozialdemokratischer Sicht machen und konnte von einem spanischen Freund berichten, der nur deshalb Deutsch lernte, weil er Karl Marx im Urtext lesen wollte.

  Es war eine gewaltige Herausforderung an das westdeutsche "Establishment", wie wir - auch damals - die herrschenden Kreise in Politik, Wissenschaft und Publizistik nannten. In Bonn, in der Hauptstadt des bundesdeutschen Staates, im Philosophischen Seminar der an die Bonner Politik angelehnten Universität, auf historischem Boden, hatten wir ausgerechnet für das Moskauer Fernsehen zum Ruhme von Karl Marx diskutiert und seine "erneuerte Botschaft" bekräftigt. Dabei mussten wir davon ausgehen, dass deutsche Geheimdienste ihre Späher (V-Leute) ausgesandt hatten und unsere Äußerungen aufmerksam registrierten. Es war die "ultimative Provokation", mehr ging einfach nicht. Wir waren richtig stolz auf uns.

  Die sowjetischen Journalisten schenkten zum Abschluss der Filmaufnahmen Wodka aus. Er musste aus einer Sonderproduktion stammen. Nie wieder habe ich einen so guten Wodka getrunken, obwohl ich bei vielen Gelegenheiten noch oft Wodka zu trinken hatte. Es war der beste Wodka meines Lebens.